Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
dazu auch. Erst jetzt nahm Jazz wahr, dass neben ihm ein zusammengekrümmter Körper auf der Rückbank hockte. Lefty, sein kleiner Bruder. Anscheinend war er nicht bei Bewusstsein. Aber viel konnte er doch nicht abgekriegt haben ... Die eine Kugel! Und ihr Konto für Pech war an diesem Tag sowieso schon weit überzogen ...
Er beugte sich über Lefty und wuchtete seine Schultern nach hinten. Bestimmt nur ein Streifschuss. Mit fliegenden Fingern tastete er Leftys Körper ab.
Als er die Hände wieder wegnahm, waren sie voller Blut. Er schaute genauer hin, und ihm wurde sehr übel.
»Na?«, erkundigte sich Billy-Boy vom Beifahrersitz her.
»Bauchschuss«, sagte Jazz.
»He, Raven, wach doch mal auf! Da vorne ist was auf der Straße los!«
»Öooh?«
»Ich sagte: Aufwachen, du Schlafmütze! Da sind rote Lichter auf der Fahrbahn, Mister Raven!«
Raven stöhnte leise und klappte benommen die Augenlider hoch. Dann ließ er sie einfach wieder zufallen. Der Beifahrersitz des Maserati war angenehm weich und warm, und er hatte in den letzten beiden Wochen nicht sehr viel geschlafen. Sollte sich doch Janice darum kümmern, was da draußen los war. »Mmhh.«
Janice' Fuß ging zum Bremspedal, und der schnittige Sportwagen verlangsamte abrupt. »Sieht wie eine Straßensperre aus«, meinte die blondgelockte junge Frau. »Und da rechts scheint auch ein Streifenwagen am Straßenrand zu stehen.«
Zu behaupten, dass Raven jetzt mit einem Schlag hellwach gewesen wäre, wäre nicht nur eine gelinde Schmeichelei, sondern eine ausgemachte Lüge gewesen. Aber immerhin brachte er es fertig, die Augen ein zweites Mal zu öffnen und sie diesmal auch in diesem Zustand zu belassen. Angestrengt spähte er durch die mit feinen Feuchtigkeitströpfchen beschlagene Scheibe nach draußen, an den Scheinwerferbalken des Maserati entlang.
Viel konnte er nicht erkennen, denn der Nebel, der zu Beginn ihrer Fahrt noch eher ein feiner Schleier gewesen war, hatte sich jetzt, vier Stunden später und dreihundert Meilen weiter nördlich, zu einem dicken weißen Leichentuch verdichtet. Durch die wallenden Nebelmassen hindurch sah Raven vage die verschwommenen Umrisse einer dunklen Gestalt, die mitten auf der Straße stand und mit jeder Hand eine rote Signallampe hin und her schwenkte. Ein uniformierter Polizist, wenn ihn nicht alles täuschte.
Die Straßensperre, die nur eine kleine Durchfahrt - gerade breit genug für einen Pkw - freiließ, bestand aus vorgefertigten, genormten Holzteilen, die zusammengelegt leicht im Kofferraum eines Streifenwagens transportiert werden konnten und beim Aufstellen nur noch durch fähnchenbesetzte Nylonseile verbunden werden mussten. Die erhoffte Wirkung war wohl eher eine psychologische.
Der dazugehörige Streifenwagen stand tatsächlich da, wo Janice gesagt hatte. In ihm schienen noch weitere Beamte zu sitzen, aber wegen der fehlenden Innenbeleuchtung ließ sich das nicht genauer ausmachen. Aber die Seitenfenster auf der Fahrerseite waren trotz der empfindlichen Kühle heruntergedreht.
Die Polizisten hatten die Innenbeleuchtung also gelöscht, damit sie keine leichten Ziele abgaben, während sie selbst aus dem Dunkeln heraus feuern konnten. Denn das, was über die Gummidichtungen der Wagenfenster lugte, waren zweifellos die Mäuler langläufiger Schusswaffen. MPis, vermutete Raven.
Und das alles zusammengenommen konnte nur eines bedeuten: Großfahndung!
Janice hatte den Wagen inzwischen endgültig zum Stehen gebracht. Auch sie schien begriffen zu haben, worum es hier ging. Deshalb war sie die letzten Meter sehr vorsichtig an die Sperre herangefahren. Und deshalb griff sie auch nicht sofort nach den Wagenpapieren oder ihrem Ausweis, sondern ließ die Hände deutlich sichtbar auf dem Steuer liegen. Bei den hier herrschenden Verhältnissen konnte jede rasche, vorher nicht angekündigte Bewegung zu leicht falsch ausgelegt werden. Und vorläufige Erschießungen lassen sich auch per Gerichtsbeschluss kaum rückgängig machen.
Der Polizist an der Sperre, ein ältlicher, vierschrötiger Mann mit groben Gesichtszügen und abstehenden Ohren, stellte die beiden roten Signalleuchten auf den Boden und kam dann langsam auf den Maserati zu, wobei er mit vor Kälte steifen Fingern eine Taschenlampe aus dem Gürtel zog. Janice kurbelte behutsam das Fenster herunter und zuckte zusammen, als der Strahl der Taschenlampe ihr voll in die Augen fiel. Ächzend und keuchend beugte sich der Beamte nach unten, um ins Wageninnere sehen zu
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