Raven - Schattenreiter (6 Romane)
gefunden, als er hierherkam, um nach dem Rechten zu sehen. Bedanken Sie sich bei dem Mann - er hat Ihnen das Leben gerettet. Ihr Schattenfreund wollte Ihnen gerade den Garaus machen.«
»Und?«, fragte Card erschrocken.
»Nichts und.« Kemmler grinste. »Sie leben ja noch, nicht wahr?«
Card schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ist ihm etwas passiert?«
»Nein. Der Reiter floh, als er den Beamten sah. Sie müssen die Burschen ganz schön eingeschüchtert haben. Wie mir der Beamte berichtete, sind sie geritten, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihnen her.« Er drehte sich um, nahm Card bei der Schulter und ging auf den Hauseingang zu. Das Gebäude war mittlerweile hell erleuchtet. Überall waren uniformierte Polizeibeamte.
Card sah sich mit einem raschen Blick in der Küche um und zuckte zusammen, als er die beiden länglichen, mit weißer Plane verhüllten Körper an der rechten Wand entdeckte.
Kemmler folgte seinem Blick und nickte betrübt. »Wieder zwei Gründe mehr, aus denen ich diese Ungeheuer haben will«, murmelte er. Er lächelte, aber der Geste fehlte jede Spur von Humor. »Haben Sie gewusst, dass die Schattenreiter hierherkommen würden?«, fragte er.
Card schüttelte den Kopf. »Nein. Ich wäre kaum so wahnsinnig gewesen, mich allein mit ihnen anzulegen. Ich hatte schon einmal die Ehre, wissen Sie.« Er lächelte schmerzlich. »Damals habe ich auch keine sehr gute Figur gemacht, fürchte ich.«
Kemmler blieb ernst. In seinem Gesicht arbeitete es. Er öffnete den Mund, setzte zu einer Frage an und schüttelte dann den Kopf.
Card konnte sich lebhaft vorstellen, was hinter der Stirn des jungen Sergeant vorging.
»Haben Sie schon eine Spur der beiden Flüchtigen?«, fragte er, um die Situation zu entspannen.
Kemmler schüttelte den Kopf. »Nein. Vor Tagesanbruch wird da auch nicht viel zu machen sein. Aber sie haben keine Chance zu entkommen. Wenn es sein muss, lasse ich die ganze Insel umgraben.« Er atmete schwer. »Sagen Sie mir eins, Card«, bat er zögernd. »Diese Schattenreiter, was sind sie wirklich?«
»Verbrecher«, antwortete Card. »Aber eine ganz besondere Art von Verbrechern.«
Kemmler schüttelte den Kopf. »Ich will die Wahrheit wissen.«
»Sie würden sie nicht glauben.«
Kemmlers linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. Er sah Card mit einem seltsamen Blick an, drehte sich dann um und zog den Inspektor hinter sich her. Sie verließen die Küche und gingen durch den Korridor zum Aufenthaltsraum. Vor der Tür blieb Kemmler stehen und drehte sich um.
»Vor einer halben Stunde hätte ich Ihnen vermutlich nicht geglaubt«, sagte er. »Aber jetzt ...« Er ließ das Ende des Satzes offen und stieß stattdessen die Tür weit auf.
Card sog scharf die Luft ein. Der Raum bildete noch das vertraute Chaos. Nur eines hatte sich verändert: Auf einer umgestürzten Couch direkt neben der Tür lag ein Schattenreiter. Sein Gesicht war verbrannt, und auf dem metallenen Brustschild glänzte Blut. Und seine Hände und Füße waren sorgfältig mit Handschellen aneinandergekettet.
»Jetzt«, sagte Kemmler noch einmal, »glaube ich Ihnen, Inspektor. Ich werde es wohl müssen.«
»Willkommen in meinem Reich, Raven«, sagte der Assassine. Ein verschlagenes, bösartiges Lächeln huschte über seine Züge. »Ich habe lange auf dich gewartet.« Er trat einen Schritt zurück, machte eine einladende Geste und wartete, bis Raven vollends in den Raum getreten war. Die schwere Holztür schlug mit dumpfem Geräusch hinter ihm zu. Der Laut erinnerte Raven unwillkürlich an das Schließen eines Sargdeckels.
Er begann sich unauffällig im Raum umzusehen. Der Saal war beinahe leer. Entlang den Wänden standen eine Anzahl großer, sorgfältig gearbeiteter Skulpturen auf mächtigen Marmorsockeln, und hinter ihnen zogen sich Zeichnungen und Reliefs auf den nur roh bearbeiteten Felswänden dahin.
»Gefällt dir, was du siehst?«, fragte der Assassine leise.
Raven antwortete nicht, aber der Alte schien an dem Thema Gefallen gefunden zu haben. Er scheuchte den Dämon, der bisher schweigend hinter Raven gestanden hatte, mit einer beiläufigen Handbewegung davon und zog seinen Gefangenen am Arm hinter sich her.
»Komm«, sagte er, »ich zeige dir meine kleine Galerie.«
Raven folgte ihm widerstrebend. Für einen Moment flammte der Gedanke in ihm auf, die Chance zu nutzen und sich auf den Alten zu stürzen, aber die Sorglosigkeit, mit der sich der Assassine bewegte, war ihm Warnung genug.
»Du
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