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Raven - Schattenreiter (6 Romane)

Raven - Schattenreiter (6 Romane)

Titel: Raven - Schattenreiter (6 Romane) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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vierundvierzig, das rechte Bein steif, der rechte Arm nutzlos; ein Krüppel. Damals war er froh gewesen, als man ihm diese Stelle angeboten hatte.
    Damals.
    Heute hasste er sie. Sie war nutzlos. Genauso nutzlos, wie er selbst geworden war. Ein Krüppel, den der Yard aus falsch verstandener Sentimentalität mitschleppte. Die Fundsachen konnten genauso gut - und vielleicht besser - von einer elektronischen Alarmanlage bewacht werden. Und die wenigen Dinge, die nach Dienstschluss gebracht wurden, konnten ebenso gut auf dem Schreibtisch irgendeines Inspektors auf den Morgen warten.
    Craddock stand auf und schlurfte zu einem der Regale hinüber. Vor einer knappen Stunde hatte ihm Card ein neues Stück für seine Sammlung gebracht - ein schlankes, schimmerndes Schwert, das am nächsten Morgen ins Labor sollte und dann wahrscheinlich wie die ungezählten anderen Teile irgendwo in den muffigen Gängen seines Reiches vermodern würde.
    Craddock betrachtete die Waffe, ohne sie zu berühren. Er hatte schon die absonderlichsten Mordgegenstände hereinbekommen - angefangen vom Wagenheber über Schraubenzieher, Bügeleisen (einmal sogar einen elektrischen Rasierapparat) bis zum guten, alten Revolver. Aber ein Schwert war bisher noch nicht darunter gewesen. Jedenfalls keines wie dieses. Die Klinge sah dünn und zerbrechlich aus, eher wie ein Kinderspielzeug als wie eine gefährliche Mordwaffe. Aber nach dem Wenigen, was er aufgeschnappt hatte, waren zwei Menschen damit getötet worden.
    Seltsam, dachte er, dass kein Blut an der Klinge war. Niemand vermochte eine Waffe so gründlich abzuwischen, dass nicht irgendwo Spuren zurückblieben. Craddock hatte im Laufe der Jahre einen besonderen Blick dafür entwickelt. Er entdeckte manchmal mit dem bloßen Auge Blutspritzer, nach denen sie im Labor stundenlang suchen mussten. Aber diese Waffe war sauber. So sauber, als wäre sie vor wenigen Augenblicken erst angefertigt worden.
    Als er sich umdrehte, sah er sich einem Mann gegenüber.
    Craddock zuckte zusammen, wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück und unterdrückte den Impuls, laut aufzuschreien. Der Fremde war in der unzureichenden Beleuchtung kaum zu erkennen, aber das Wenige, was Craddock sehen konnte, reichte vollkommen, um ihm einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen.
    Der Eindringling trug ein langes weißes Gewand, das Craddock fatal an ein Nachthemd erinnerte, wie sie die Patienten im Krankenhaus zu tragen pflegten. Sein Gesicht war unnatürlich blass, und in seinen Augen loderte ein seltsames, wildes Feuer. Blitzende Infusionsnadeln schienen in seinen Armvenen zu stecken, lose baumelnde Enden von zerrissenen Schläuchen und Leitungen. Aus dem Halsausschnitt quollen die zerfetzten Enden von dünnen, farbigen Drähten, und aus seinem rechten Ärmel tropfte langsam und gleichmäßig eine dunkle Flüssigkeit.
    »Was - was wollen Sie hier?«, ächzte Craddock. »Wie kommen Sie hier herein?« Er schielte an der unheimlichen Erscheinung vorbei zur Tür. Sie war verschlossen. Und der Schlüssel steckte noch von innen im Schloss, so wie er selbst ihn hinterlassen hatte.
    Der Fremde machte einen zaghaften Schritt und streckte die Hand aus. Seine Fingerspitzen deuteten auf das Schwert. Seine Bewegungen wirkten gleichzeitig ungelenk und ungeheuer kraftvoll. Das gleiche plumpe Tapsen, mit dem Horrorfilmregisseure ihre Fantasiemonster laufen lassen. Craddock spürte einfach die übermenschliche Kraft, die hinter den Bewegungen des Eindringlings lauerte.
    Craddocks Gedanken überschlugen sich. Er hatte keine Ahnung, wie der Mann hierherkam und was er wollte. Aber er spürte instinktiv, dass der Fremde gefährlich war. Er schob sich langsam zur Seite und überlegte fieberhaft, wie er an das Telefon auf dem Tisch oder an die Tür gelangen konnte. Die Enge des Raumes konnte ihm zum Verhängnis werden. Er hatte praktisch keine Möglichkeit, an dem Eindringling vorbeizukommen.
    Der Fremde machte einen weiteren Schritt und stand jetzt am Regal. Seine Finger tasteten nach dem Schwert, erfassten es und begannen, die Plastikverpackung herunterzureißen.
    »Das - das dürfen Sie nicht!«, kreischte Craddock. Seine Angst wurde von einem kurzen, sinnlosen Aufwallen von Wut davongespült. Dies hier war sein Reich, und niemand, auch diese entsprungene Horrorfilmgestalt nicht, hatte das Recht, ohne sein Einverständnis hier irgendetwas zu verändern. Mit einem Mut, der ihn selber am meisten überraschte, sprang er den Fremden an und

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