Raven (Shadow Force) (German Edition)
menschenleer und seine Beine schwer wie Blei. Seine Gedanken wanderten zurück zu Li.
Lianne Morgan war in jedem Fall eine äußerst attraktive und aufregende Herausforderung, die ihn reizte. Sie war in Gefahr und somit ganz sein Fall.
*
Lianne fühlte sich wie auf einem überfüllten Rummelplatz zur Hochsaison. Nachdem ihre Verletzungen im St. Charles Krankenhaus glücklicherweise als harmlose Quetschungen, Schnittwunden und Blutergüsse diagnostiziert worden waren, die sich zwar als unerfreulich offenbarten , aber alsbald heilen würden, hatte Dexter Slatt die halbe Abteilung in ihr Krankenzimmer geschleppt und sie auch nicht mit einem Interview verschont, das am nächsten Tag im Guardian erscheinen würde. Ihrem unbekannten Retter und Helden des Tages sollte dabei ein besonderer Platz eingeräumt werden, denn er hatte sich weder mit dieser selbstlosen Tat gebrüstet noch war seine Identität bekannt. Dexter wollte nun einen Aufruf starten, damit der fremde Mann sich melden würde und eine satte Belohnung erhielt. Der Bereich der City Hall, in dem Lianne das Interview mit William Hague geführt hatte, war bei dem Anschlag am schlimmsten betroffen gewesen und es schien wie ein Wunder, dass Lianne überlebt hatte und kaum verletzt worden war. Drei Menschen waren allerdings ums Leben gekommen und die Polizei hatte vor einer Stunde bekannt gegeben, dass tatsächlich Sprengsätze gefunden worden waren und es sich nicht um technische Defekte oder eine Gasexplosion gehandelt hatte. Der Terror war nicht zum ersten Mal nach London gekommen, doch dieser Anschlag barg Symbolcharakter. Es war ein Angriff auf die Regierung und England. Die Massen empörten sich, und als William Hague kurz nach dem Anschlag und unverletzt ein Interview gegeben hatte, hatte er diesem Terror den kompromisslosen Kampf angesagt. Was immer das auch bedeuten würde. Worte waren in der Politik oft gewaltiger als spätere Taten. Wenigstens hatte er ihr eine Grußkarte ins Krankenhaus gesendet und einen Strauß mit bunten Frühlingsblumen. Das rechnete sie ihm in dieser schwierigen Situation hoch an. Einen gewissen Eindruck schien sie also hinterlassen zu haben.
„Auf unseren bezaubernden Dickkopf.“ Dexter hob ein Glas mit Orangensaft und prostete ihr zu. „Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Liannes Schädel nicht aus ganz besonderem Holz geschnitzt wäre. Wir sind froh und dankbar, dass sie uns geblieben ist!“
„Auf Lianne ! “, riefen die anderen im Chor und Lianne spürte innerlich berührt die Zuneigung, die ihre Kollegen ihr entgegenbrachten. Vielleicht war es so, weil sie das Küken der Abteilung war und in jungen Jahren bereits einige Schicksalsschläge zu verkraften hatte.
„Vielen Dank.“ Sie stieß mit jedem an, nippte an ihrem Orangensaft und lächelte tapfer. Die Gefühle wollten ihr die Kehle zuschnüren und sie räusperte sich. „Gibt es schon ein Bekennerschreiben?“ Die pochenden Schmerzen in ihrem Kopf versuchte sie zu ignorieren , als sie das Thema wechsel te . Sie stand nicht gern im Mittelpunkt und es war ihr beinahe unangenehm, dass sich alle um sie sorgten.
„Bisher nicht.“ Dexter Slatt vertilgte das letzte Stück einer Apfelpastete und leckte sich ein paar Krümel von den Fingern. „Aber das wird noch kommen. Diese Kerle brüsten sich gern mit ihren Taten.“ Es war sicherlich schon seine fünfte Pastete und Carol Baxter, Liannes Kollegin , rümpfte empört die Nase.
„Die sind für Lianne!“ Sie maß seine ehemals schlanke Figur von oben bis unten und Lianne musste sich ein Grinsen verkneifen. „Deine Frau ist schwanger, nicht du.“
Dexter grinste. „Die sind aber gut!“
„Ich weiß, gut für Lianne“, konterte Carol, zwinkerte ihm zu und befestigte einen der vielen, bunten Ballon s an Liannes Bett.
„Du willst nur ihre tadellose Figur verderben“, schnappte er im Spaß zurück und half ihr, den Knoten zu befestigen. So verfuhren sie mit weiteren Ballons und einigen Schleifen, bis das steril e, weiße Krankenbett nicht mehr wiederzuerkennen war.
Lianne schmunzelte innerlich. Ihre Kollegen und Freunde hatten sie mit gut gemeinten Aufmerksamkeiten und Fürsorge überhäuft, aber ihr war mittlerweile mehr nach Ruhe und tagelangem Schlaf. Der Anschlag hatte sie innerlich zutiefst erschüttert und die Erkenntnis, dem Tode nahe gewesen zu sein, hatte etwas Aufrüttelndes und Bedrohliches. Wenn man jung war, dachte man nie über seine eigene Sterblichkeit nach. Das hatte sich geändert.
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