Raven (Shadow Force) (German Edition)
Entschuldigung ? Dieser Kerl hatte Launen wie eine Diva. Oder irgendetwas plagte seine Seele und er wollte nicht mit ihr darüber sprechen. Hatte er vielleicht ein schlechtes Gewissen? Aber warum? Sie hatte es auch gewollt und nicht bereut, ganz im Gegenteil. Diese Stunden würde sie niemals in ihrem Leben vergessen.
Erst bei der nächsten Mahlzeit hatte er ihr eher widerstrebend von der Gefangennahme berichtet und das Wenige weitergegeben, an das er sich erinnern konnte. Wahrscheinlich hatte er dabei einige Aspekte ausgelassen, denn über Folter und sein Martyrium hatte er sich wenig geäußert. Das verlorene Flackern in seinen Augen, seine Ruhelosigkeit, der Albtraum, Erinnerungslücken, das leichte Zittern seiner Hände und das Zucken in seinen Wangen beim Anschneiden des Themas hatten ihr leider Hinweis genug gegeben. Sie war tief betroffen , aber auch hilflos, weil sie ihm nicht mehr nahekommen und ihn irgendwie trösten konnte. Der dicke Kloß steckte noch immer in ihrem Hals und wurde größer. Wenn er ähnlich wie Frank tickte, würde er nicht gern vermeintliche Schwächen zeigen, sondern die Dinge lieber mit sich selbst ausmachen. Dabei musste und konnte niemand immer nur stark sein. Er hatte bereits jetzt so viel für sie getan … und sie geliebt, wie es kein Mann je vermocht hatte. Sie raufte sich die Haare. Wusste Gott, wie es ihrem Bruder ergangen war , der sehr wahrscheinlich ähnliche Qualen erleiden musste. Sie würde alles versuchen, ihn zu finden und ihm zu helfen. Koste es, was es wolle.
‘ Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. ‘ Das hatte einst der bekannte Philosoph und Schriftsteller Jean Améry aus eigener KZ-Erfahrung geschrieben. Lianne hatte zu diesem Thema Recherchearbeit geleistet, als sie vor Monaten einen Bericht über die Zustände der Guantanamo-Häftlinge und Forderungen von Amnesty International verfasst hatte.
Viele Gefolterte fühlten sich aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen, indem man ihnen durch verschiedene Foltermethoden das Grundvertrauen in die Menschheit genommen und sie zu einem Fremdkörper gemacht hatte. Manche der Betroffenen waren von Misstrauen, Angst, dem Gefühl der Erniedrigung, des Ausgestoßenseins und der Selbstablehnung vereinnahmt bis ans Ende ihres Lebens. Durch die Folter wurde die seelisch-körperliche Einheit des Menschen tief greifend gestört. Das Opfer vertraute sich selbst nicht mehr. Wut und Hass richteten sich gegen sich selbst. Man wollte sich bestrafen, schädigen, seinen Körper nicht mehr spüren, ihn als Fremdkörper ablehnen. Selbst wenn Raven ein durch und durch starker und in sich gefestigter Mann war, niemand ging schadlos aus der Folter hervor , das wusste Lianne. Sie fragte sich , ob es in ihrer Macht lag , ihm zu helfen. Die Hilfe eines Psychologen mochte dabei substanziell sein, aber sie hielt ihn nicht für einen Typ, der diese Hilfe annehmen würde. Es war sicherlich schwierig, ihm wirklich nahezukommen und auch wenn sie sich körperlich geliebt hatten, so hatte er Seele und Herz ganz sicher außen vor gelassen. Da war er anders als sie. Lianne fühlte eine kleine Leere, die sie schnell zu verscheuchen suchte. Es brachte nichts, wenn sie sich quälte.
Raven war in der Zeit seiner Gefangenschaft zweimal auf Frank gestoßen und ging davon aus, dass ihr Bruder noch lebte. Unter welchen Umständen, das war die Frage, die schwer und unbeantwortet an ihrem Herzen nagte. Lianne mochte sich kaum vorstellen, was er alles erleiden und ertragen musste, während das MI6 ihn für tot erklärt hatte und keine Anstalten machte, tiefgründiger zu forschen. Raven vermutete, dass es ein Komplott gab, das von höchster Stelle initiiert worden war. Das war auch ihre Annahme. Ihr Näschen sagte ihr, dass er recht hatte. Aber wer? Und warum? Das alles machte keinen Sinn. Noch nicht. Am besten sie sprach noch einmal mit Raven, der sich in der Zwischenzeit in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, das neben allem möglichen Schnickschnack und technischem Hightech eher der Sammlung eines Militaria - oder Waffenfanatikers glich. Stundenlang war er schon verschwunden und hatte die Tür zugezogen, als ob er eine tatsächliche Barriere schaffen wollte, während sie ruhelos durch seine Wohnung getigert war.
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