Ravinia
Zwar besaÃen beide einen mehr oder minder ausgeprägten Hang zur Selbstdarstellung, doch Lee war dabei verwegener und in einem gewissen Sinne auch ehrlicher. Sie mutmaÃte, dass, sollte es einmal hart auf hart kommen, Christopher Davenport sich wahrscheinlich als Feigling entpuppen würde. Lee dahingegen war nicht feige, da war sie beinahe sicher. Doch sie beschloss, den Bibliothekar erst einmal ernster zu nehmen, da es schlieÃlich um ein höheres Ziel ging und Lara sich nicht von ihren Sympathien ablenken lassen mochte.
»Legenden gibt es viele«, erklärte Christopher Davenport. »Und wie wir alle wissen, die wir zu einer Stadt gehören, in der es von Absonderlichkeiten nur so wimmelt, könnten sich manche Legenden vielleicht für unsere Zwecke als praktischer erweisen, als man zunächst einmal annehmen würde.
Nehmen wir zum Beispiel diejenige vom Baum des Lebens. Er ist ein weit verbreitetes Motiv. Man findet ihn sowohl im mesopotamischen Raum wie auch in nordischen Göttersagen. Er hat sogar Einzug in die Bibel gehalten. Wer von seiner Frucht isst, werde unsterblich, heiÃt es.
Ãberaus häufig wird das ewige Leben durch die Aufnahme einer bestimmten Substanz erlangt. So steht geschrieben, dass Drachenblut unverwundbar oder unsterblich mache. Genauso auch das biblische Wasser des Lebens. Oder auch der Stein der Weisen, das groÃe Elixier, das Magisterium, das angeblich vom Schriftsteller Flamel erfunden und in Verbindung mit Rotwein vor dem Altern bewahren soll. So soll aber auch derjenige vor dem Alterungsprozess bewahrt werden, der von einem Vampir oder Werwolf gebissen wird â zumindest bei den Vampiren wissen wir mittlerweile, dass das Unsinn ist.
Ebenso unsterblich werde derjenige, der sich an bestimmten Orten aufhält, oder derjenige, der jemanden an seiner statt als Opfer darbringt oder dessen Lebenskraft auf sich überträgt. Gerade solches wurde im Deutschland des Mittelalters und der frühen Neuzeit erzählt.
AuÃerdem gibt es noch die Möglichkeit, einen Teil von sich wegzusperren, sei es das Herz oder irgendeine Eigenschaft. Oscar Wilde schrieb einst über einen gewissen Dorian Gray, und wenn ich Ihnen allen richtig zugehört habe, dürfte Mr Winter erheblich mehr von Dorian Gray an sich haben, als uns lieb sein kann.«
Er lieà ein bitteres Lachen vernehmen. Offenbar traf ihn die Schande seiner eigenen Zunft tatsächlich sehr tief.
»Zum Schluss wäre da noch der sprichwörtliche Pakt mit dem Teufel, der einem Versprechungen jedweder Art macht im Tausch gegen die Seele oder das Lachen oder was auch immer. Selbst Dante wurde ein solch unheiliger Pakt zugeschrieben im Austausch gegen seine Einblicke in das Gefüge von Erde, Himmel und Hölle.«
Er stieà sich vom Tisch ab, ging um seinen Stuhl herum und umfasste dessen Lehne von hinten, so als suche er Halt.
»Die Menschen waren schon immer erfinderisch, wenn es um ihren eigenen Vorteil ging«, resümierte Baltasar. »Wenn wir ehrlich sind, sollte uns das Weiterleben von Roland Winter nur am Rande stören, auch wenn es ewig währen sollte. In seiner jetzigen Verfassung stellt er keine Gefahr für uns dar. Die Frage ist also: Wie kann Winter seine Schwäche besiegen ?«
Christopher Davenport fing Baltasars Blick auf wie ein Lehrer, dessen Schüler eine interessante Frage gestellt hat.
»Das ist vielleicht der springende Punkt, Mr Quibbes. Wenn ich recht verstanden habe, hat Winter in erster Linie eine starke physische Schädigung durch eine Art unkontrolliert wuchernden Alterungsprozess erlitten, korrekt?«
»Vergessen Sie nicht das Ãl, das er der Leinwand zugesetzt hat!«
»Das habe ich nicht vor, nur denke ich, dass dazu tiefere Fachkenntnisse der Alchemie vonnöten sind. Ich kann Ihnen lediglich in einem schnellen Ãberblick darstellen, was der Menschheit alles eingefallen ist, um den Alterungsprozess nicht nur aufzuhalten, sondern ihn auch rückgängig zu machen.«
»Dann schieÃen Sie mal los!«
Der junge Bibliothekar räusperte sich lautstark.
»Legenden zu diesem Thema finden sich mannigfaltig, die meisten davon interessanterweise im Abendland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Aber auch schon im Altertum und im alten Orient, wenn man zum Beispiel die wundersamen biografischen Schilderungen über Alexander den GroÃen bedenkt. So soll Alexander einst um den Einzug
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