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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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eine Möglichkeit gegeben, Valerius daraus einen Strick zu drehen?«
    Genevas Gesichtsausdruck wurde misstrauisch.
    Â»Ich glaube nicht«, meinte sie, »dass das Ganze so völlig unauffällig hätte vonstattengehen können. Auf der anderen Seite sind Nachtwächter auch nur Menschen. Genau wie Schlüsselmacher und Wahrsager«, dabei ließ sie den Blick über die Anwesenden schweifen.
    Â»Wir kommen an diesem Punkt also vorläufig zu keinem Ergebnis?«, fragte Lord Hester. Geneva nickte.
    Â»Gut. Was hat sich in den übrigen Zünften ergeben?«
    Verheißungsvoll wanderte der Blick des alten Rabenlords über die Gesichter der Anwesenden. Sorge schimmerte in den Augen seiner ansonsten beherrschten Gesichtszüge. Hoch über Ravinia, über dem Adelsviertel mit seinen so prunkvollen wie abstrusen Prachtbauten, thronte auf einem einsamen Felsen die Burg Ravinia. Niemand wusste genau, welche Funktion, welche Stelle der jeweilige Burgherr innehatte, doch allen gemeinsam war eine ungewöhnlich lange Lebensspanne, eine natürliche Autorität und die Magie, den sprechenden Raben, die es nur hier in Ravinia gab, zu gebieten. Doch wenn es eine Macht auf der Seite der Guten gab, so war dies in den Augen aller Einwohner Ravinias Lord Hester. Nur stellte sich auch die Frage: Wer waren die Guten? Was war wirklich gut, was wirklich richtig? In den Verlauf der Stadtgeschichte hatten die Rabenlords nur selten eingegriffen, denn bisweilen galten sie als unberechenbar: Wenn sie ein Problem lösten, so taten sie es mit einer eigenartigen Weisheit, und ihren seltenen Urteilen widersetzte sich niemand. Sie schienen immer über alles informiert zu sein, alles zu wissen, über allem in einer Sphäre von weiser Gelassenheit zu schweben.
    Doch ausgerechnet den Rabenlord mit derselben Ratlosigkeit, mit demselben Unwissen vor sich stehen zu sehen, war kein ermutigender Anblick. Die Angst vor Roland Winter –Lara hatte sich bisher nicht einmal getraut zu fragen, was er genau getan hatte – schnürte einem langjährigen Einwohner der Stadt förmlich die Luft ab.
    Â»Was hat sich in den übrigen Zünften ergeben?«, fragte der Lord noch einmal in das betretene Schweigen hinein.
    Â»Bei den Wahrsagern nichts«, meldete sich Lee schließlich.
    Â»So?«
    Berrie übernahm die weiteren Erklärungen.
    Â»Wahrsager können eine Menge. Manche von uns können Vorhersagen treffen, manche können in unendliche Tiefen des menschlichen Geistes vorstoßen, manche können Erinnerungen, Gefühle und Wünsche lesen, manche können an andere Orte blicken. Lichtgeister, Telepathie, Schamanismus und vieles mehr sind unsere Tätigkeitsfelder. Aber wie man einen derart geschädigten Menschen wie Winter heilt, konnte uns bisher niemand sagen. Unser Gebiet ist der Geist. Wie man ein körperliches Gebrechen abwendet oder umkehrt, wissen wir nicht.«
    Â»Seid ihr bei Milton gewesen?«
    Berrie schüttelte den Kopf.
    Â»Der alte Sturkopf wollte uns keine Audienz gewähren.«
    Das Wort Audienz spie sie dabei aus wie eine bittere Frucht.
    Â»Schade«, meinte Lord Hester nur. »Dabei wäre es interessant gewesen, zu hören, was er vielleicht zu Ma’Haraz zu sagen hat. Wirklich schade.«
    Die Enttäuschung stand allen ins Gesicht geschrieben: wieder keine Lösung.
    Christopher Davenport nahm das Ruder in die Hand. Er stand auf und beugte sich, einem Lehrer gleich, über den Tisch.
    Â»Ich kann leider auch keinen konkreten Lösungsansatz bieten, aber ich kann uns vielleicht einen Blick über den Tellerrand der Begabungen in unserer Stadt hinaus verschaffen.
    Wenn ich es richtig verstanden habe, so geht es Roland Winter in erster Linie darum, trotz seines Zustandes zu leben, richtig?«
    Vorsichtiges Nicken von allen Seiten. Lord Hester hatte wieder auf einem der barocken Lehnstühle Platz genommen. Von oben kamen zwei oder drei erstickte Krächzer. Ob sie zustimmend, interessiert oder verächtlich gemeint waren, konnte niemand sagen.
    Â»Die Literatur ist schon immer der wertvollste Bewahrer der Geschichte gewesen, wie vielleicht allgemein bekannt sein dürfte.«
    An diesem Punkt bemerkte Lara, wie selbst Liza die Augen verdrehte, allerdings nur um sie zu Lee hinüberschweifen zu lassen. Lara überlegte kurz, ob es Parallelen zwischen Lee Crooks und Christopher Davenport gab, aber sie war sich nicht sicher.

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