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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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gewöhnlich auch nicht bei roten Ampeln über viel befahrene Straßen, oder?«
    Verächtlich drehte sie sich um und marschierte voran, während sich neben ihr einige Efeuranken schlängelten wie artige Haustiere an der Leine.

    Â»Wie machst du das?«
    Â»Was?«
    Â»Na das vorhin.«
    Toms Augen waren große, fragende Kreise, die Lara durchdringend anstarrten.
    Â»Na ja, du hast es die letzten Tage ein paar Mal gemacht«, führte sie weiter aus. »In Edinburgh, in Rubens Haus und jetzt hier. Ich kann bloß nicht sagen, was du da machst. Erklär’s mir!«
    Tom blickte nach vorne zu Liza, die ihnen im Abstand von einigen Schritten vorausging und auf die efeuberankte Felswand zuhielt, dann trat er einen Schritt näher an Lara heran und drückte ihr etwas in die Hand.
    Als Lara die Hand öffnete, lag darin eine Taschenuhr an einer feingliedrigen Kette. Sie war einmalig schön, und Lara merkte, wie ihr Mechanikerherz schneller zu schlagen begann. Es kribbelte, die Uhr in der Hand zu wiegen. Schön, drohend, unbeschreiblich. Sie war von einem strahlend goldenen Glanz, wirkte robust und gleichzeitig sehr filigran. Zwei ineinander verschlungene »T« liefen in Schnörkeln über den Deckel der Uhr. Lara ließ ihn aufschnappen. Die Innenseite des Deckels war etwas verkratzt, so als hätte dort einmal ein Bild geklebt, das man mit einem Messer wieder herausgekratzt hatte. Das Ziffernblatt war eigenartig. Es zeigte keine Uhrzeit, nein, nicht einmal die gewöhnlichen großen und kleinen Striche einer gewöhnlichen Uhr. Stattdessen waren sieben Symbole dort eingelassen, die ein wenig aussahen wie eine Mischung aus Tarotkartenmotiven und den Runen, die Berrie immerzu auf Balken und Wände kritzelte. Ein einziger feiner Zeiger, auf dessen Achse ein Planet prangte, lief in unterschiedlicher, pulsierender Geschwindigkeit gegen den eigentlichen Uhrzeigersinn über das Ziffernblatt. Beinahe wirkte die Uhr wie ein lebendiges Wesen.
    Lara machte den Deckel zu und gab sie Tom zurück.
    Â»Was tut sie?«
    Â»Sie lässt die Zeit für einen kurzen Moment gefrieren«, erklärte dieser ihr halb flüsternd. Er drückte auf den Stellknopf an der Seite, und Tom flackerte vor Laras Augen einmal kurz auf.
    Â»Sie ist nicht aufgezogen. Das tut sie von selbst, aber es braucht eine Weile. Seit Edinburgh und Krumau hatte sie nicht mehr die Zeit dazu, deshalb hat es auch vorhin nicht gereicht, um vor der schwarzen Rebe davonzulaufen.«
    Â»Das ist genial«, meinte Lara. »Was du alles tun könntest mit so einer Uhr!«
    Â»Deshalb«, fuhr Tom fort, »wird sie auch nie jemand außer mir bekommen. Darüber hinaus funktioniert sie auch nur, solange ich lebe. Nach meinem Tod wird sie einfach stehen bleiben.«
    Ein Blitz der Erkenntnis durchzuckte Laras Geist.
    Â»Deshalb trägst du keinen Meistertitel«, hauchte sie.
    Tom nickte nur.
    Â»Diese Uhr sollte mein Meisterstück sein, aber der Stadtrat zieht so ein Meisterstück immer für einige Jahre ein und stellt es aus, damit andere davon lernen können oder sich inspirieren lassen. Aber solange ich es vermeiden kann, wird diese Uhr nicht in unsichere Hände gelangen.«
    Dabei beließ er es und schritt schneller aus. Lara hingegen fragte auch nicht weiter nach. In ihre Bewunderung versunken bildete sie den Abschluss ihres kleinen Gänsemarsches. Tom Truska besaß also die Courage und den Anstand, auf seine Meisterwürde zu verzichten, einfach aus purem Idealismus heraus? Sie konnte nicht umhin, beeindruckt zu sein, und musste daran denken, was Geneva kürzlich am Bahnhof von Budweis über Tom gesagt hatte: Er sei ein seltsamer Kerl.

    Wenn es etwas gab, das eine Stadt wie Ravinia, deren Bewohner kaum unterschiedlicher sein konnten, einte, dann war es zweifelsfrei der ans Absurde grenzende Drang zur Extravaganz.
    Am Fuße der Felswand fielen die Efeuranken wie Locken langen, grünen Haares nach unten auf den Boden. Sie wirkten ähnlich dicht wie Laras Haar – bloß in einer anderen Dimension. Und ebenso wie Laras Haar das gesamte Farbspektrum der Bernsteine aller Küsten der Welt abdeckte, so taumelte der Efeu durch alle Facetten der Farbe Grün.
    Liza murmelte etwas, und der Efeu teilte sich vor ihr wie ein Vorhang und fiel hinter ihr wieder zu.
    Tom und Lara wechselten einen Blick, der von Toms Seite aus etwa so viel bedeuten mochte wie Interessante

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