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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Balanceakt, wie Lara schneller merken sollte, als ihr lieb war.
    Â»Es ist schon seltsam, wie die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen beginnen«, sinnierte Keiko Ito, als Tom mit seinen Ausführungen geendet hatte.
    Â»Wie meinst du das?«, hakte er nach.
    Sie blickte ihn aufrichtig und ein wenig traurig, keinesfalls jedoch wehmütig an, und ihre Augen bildeten dabei Seen voller Weitsicht, tiefer als der Marianengraben oder das, was der dunkle Fluss von Ravinia auf seinem Grund verstecken mochte.
    Â»Du kannst dir sicher denken, Tom, dass ich es war, die das Öl hergestellt hat, das Nicolaes auf der Leinwand verrieben hat, damit das Gewebe sich schneller zersetzt. Wir wollten Roland Winter so weit schwächen, dass man ihm einst den Prozess machen könnte.«
    Tom nickte.
    Â»Ich hatte so etwas befürchtet«, er holte Luft. »Aber bei allem, was Winter dieser Stadt und euch angetan hat, warum habt ihr ihn nicht einfach auf ewig weggesperrt? Hätten sich alle durch ihn Geschädigten nicht gewünscht, dass er in der Hölle schmort?«
    Â»Hätten sie das, Tom? Hätten sie das wirklich? Bedenke, was dies für Pfade sind, die wir beschritten haben! Wir haben die Hölle über jemanden verhängt, nur weil wir es konnten.«
    Â»Aber ihr hattet keine andere Wahl.«
    Â»Damit möchte man sich am liebsten herauswinden aus seiner Verantwortung, aber glaube mir, Tom, wir Menschen urteilen immer und immer wieder. Es liegt in unserer Natur zu urteilen, dabei sind wir dazu meist gar nicht in der Lage. Wir tun es trotzdem. Natürlich kann man leichtfertig sagen, Roland Winter hätte die Hölle verdient. Vielleicht hat er das auch, wer weiß? Aber genau das ist der Punkt, an dem Gut und Böse, Richtig und Falsch verwischen. Hast du nicht gesagt, der Vagantenkönig Marcion hätte euch verraten? Und wenn es nur war, um sich einen besseren Stand zu verschaffen in Ravinia?«
    Â»Trotzdem war es niederträchtig und falsch.«
    Â»So, war es das?«
    Keiko Itos Augen ruhten lange auf Tom, ließen Weisheit hinaustropfen wie kalten Rauch.
    Schließlich – nach einem Moment unter diesem Blick – schüttelte Tom den Kopf.
    Â»Nein«, meinte er. »Ich kann es nicht beurteilen. Falsch und niederträchtig ist es, wie man selbst auf diejenigen unter den Vaganten herabschaut, die eine ehrliche Haut sind.«
    Â»Aber wir neigen dazu, sie dennoch alle über einen Kamm zu scheren, oder?«
    Toms stummes Nicken mischte sich mit der sorgengeschwängerten Luft.
    Â»Siehst du, Tom«, sagte sie sanft. »Deshalb frage ich mich immer und immer wieder: Ist es richtig oder bloß kurzsichtig und eitel, was wir tun? War es richtig, Roland Winter unter unmenschlichen Qualen wegzusperren, oder haben wir ein noch viel abgründigeres Monster erschaffen? Haben wir den Leuten Frieden gegeben, oder haben wir ihnen nur die Ruhe vor der vernichtenden Sturmböe verschafft?«
    Sie legte ihre Hand auf Toms, so wie es eine Großmutter tun würde, um ihren resignierten Enkel zu trösten.
    Â»Leider musste ich erst sehr alt werden, um das alles zu begreifen«, fuhr sie schließlich fort. »Ich wünschte, ich hätte einer unschuldigen Generation ein leichteres Erbe hinterlassen. Aber abgesehen davon, dass es wohl an euch liegen wird, Ravinia und seine Einwohner vor einem Unglück zu bewahren, muss euch viel mehr daran liegen, in Zukunft beide Seiten der Medaille zu beleuchten. Lasst euch nicht verleiten, einen Weg einzuschlagen, nur weil er einfach erscheint. Hütet euch davor, Urteile zu fällen, deren Konsequenzen euch im Innern zu zerreißen drohen.«
    Schweigen breitete sich über den niedrigen, japanischen Tisch aus. Liza und Lara sahen besorgt in das Gesicht der alten Alchemistin. Schließlich fasste Lara sich ein Herz und stellte ihre Frage:
    Â»Wer war damals alles an Winters Gefangennahme beteiligt?«
    Einen Moment lang schien Keiko Ito in sich zu gehen, dann breitete sie vor Lara aus, was Baltasar Quibbes ihr nicht einmal auf dem Sterbebett anvertraut hätte, wahrscheinlich weil auch er in den vergangenen Jahren zu einer Erkenntnis gelangt war, was richtig und was einfach war.
    Â»Wir waren eine etwas elitär anmutende Riege von Meistern«, gestand sie. »Wir waren zu unserer Zeit die Besten, und das wussten wir auch.« Es klang nicht, als wäre sie besonders stolz auf das, was sie getan

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