Raylan (German Edition)
unheimlich. Wie einen Toten zu küssen.
Es kam ihr kurz in den Sinn, einfach wegzulaufen, sich davonzumachen. Irgendjemand würde die Schüsse gehört und die Polizei gerufen haben.
Oder: Dableiben und sich eine Geschichte ausdenken.
Officer, ich bin OP-Schwester am UK Medical. Wir retten anderen Menschen das Leben, wir erschießen sie nicht.
Sie musste nur noch das Operationsbesteck und Cubas Klamotten loswerden, die überall in der Wohnung herumlagen.
Officer, ich habe eine Vierzehn-Stunden-Schicht hinter mir und bin kurz nach Hause gekommen, um einen Happen zu essen. Ich habe gemerkt, dass jemand in der Wohnung ist, und dann habe ich die beiden Leichen gefunden. Ich habe bei beiden sofort überprüft, ob sie noch leben, habe aber keine Ahnung, wie sie hier reingekommen sind. Ich glaube, der Nackte ist von der Polizei. Vielleicht ist er dem anderen, dem Afroamerikaner, hierher gefolgt. So könnte sie’s ihnen sagen. Aber warum ihre Wohnung?
Darüber konnte sie später noch nachdenken. Sie hatte Raylans Glock und wie viele Schüsse damit abgegeben, sieben? Sollte jemand die Schüsse gehört haben, würde einer mehr auch nicht schaden, oder?
Bring’s hinter dich und dann raus hier. Nachdenken kannst du später.
Sich von Cuba zu befreien, war harte Arbeit, der Mann half überhaupt nicht mit. Raylan schaffte es schließlich, seinen Körper so weit hochzustemmen, dass er ihn zur Seite drücken und sich selbst aus der Wanne ziehen konnte. Er prüfte, ob die Sig geladen war, und ging auf die Tür zu.
Mit seiner Glock in der Hand stand Layla auf der anderen Seite des Betts. Sie sah hoch und richtete im selben Moment die Waffe auf ihn. Raylan bewegte sich nicht, stand einfach nur nackt in seinen Cowboystiefeln da und hielt die Pistole locker in der Hand.
Sie in ihrem Kimono fragte ihn durchaus gut gelaunt: »Wie fühlen Sie sich?«
»Groggy«, antwortete Raylan. »Als ob ich ein paar zu viel gehabt hätte.«
Sie sagte: »Und was ist das, Cubas Knarre? Ich sage es Ihnen ja nur ungern, aber Sie brauchen gar nicht versuchen, sie zu benutzen, denn ...«
»Ich habe nachgesehen«, sagte Raylan, »sie ist geladen.« Und fügte hinzu: »Ich will Sie nicht erschießen. Okay?«
Sie klang überrascht, als sie sagte: »Ich dachte, Sie wollten mich verhaften.«
»Das liegt ganz bei Ihnen«, sagte Raylan.
»Tja, ich kann mir nur schwer vorstellen, wie wir uns hier eine Schießerei liefern«, sagte Layla und hob beide Arme über den Kopf, wobei sich der Kimono weit genug öffnete, um zu offenbaren, dass sie darunter nackt war.
Sie sagte: »Möchten Sie mich abtasten?«
Das war eine Premiere für Raylan: eine Frau, die sich ihm mit der Waffe in der Hand darbot.
Ihn erst heiß machen und dann erschießen? Anscheinend war das ihr Plan. Mit Schwung nahm sie die Glock wieder herunter auf Augenhöhe, und Raylan hob die Sig und schoss aus der Hüfte, mitten in sie hinein, wenige Zentimeter unterhalb des Herzens. Der Schuss warf sie um, im Fallen griff sie nach der Bettdecke. Raylan drehte sich in seinen Cowboystiefeln einmal schwungvoll um sich selbst, hob sein Jackett vom Boden auf,zog es an und gleich wieder aus, stand nackt über ihr. Er sah auf ihr überraschtes Gesicht hinunter, noch konnte sie den Blick scharf stellen, noch war Leben in ihren Augen. Layla sagte: »Ich kann nicht fassen, dass Sie auf mich geschossen haben.«
Raylan sagte: »Ich auch nicht.«
Vierzehntes Kapitel
W enn eine Dame gerade eine Pistole auf dich richtet«, sagte Art Mullen, »denkst du doch nicht an deine Manieren und lässt ihr den Vortritt.«
Sie frühstückten im A Touch of Country im Stadtzentrum von Cumberland. Raylan war zurück aus Lexington und stocherte nun in seiner Grütze herum, vergrub die Schinkenwürfel darin.
»Du denkst immer noch darüber nach«, sagte Art, »und fragst dich, ob du zu schnell gewesen bist. Die Frau jagt dir eine Spritze in den Leib und schnappt sich deine Waffe. Du schaffst es bis zu einem Showdown. Sie zielt auf dich, und du bist immer noch randvoll mit Betäubungsmitteln. Und dann fragst du dich, ob du vielleicht doch zu schnell abgedrückt hast?«
»Sie war überrascht, dass ich sie erschossen habe«, sagte Raylan.
»Warum? Hat sie gedacht, du bist ein Gentleman? Sag mir, was du sonst hättest tun sollen.«
»Ich war selbst überrascht«, sagte Raylan, »dass ich’s getan habe.«
»Weil du noch nie auf eine Frau geschossen hast?«
»Wahrscheinlich.«
»Warum glaubst du eigentlich, dass du eine
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