Rebecca
verdankte?
Rebeccas Vetter! Warum mochte Maxim diesen Vetter nicht? Warum hatte er ihm verboten, nach Manderley zu kommen, Beatrice hatte ihn einen widerlichen Kerl genannt, aber sonst hatte sie nichts über ihn gesagt. Und je mehr ich über ihn nachdachte, desto mehr gab ich ihr recht. Diese stechenden blauen Augen, der weichliche Mund und sein unverschämt vertrauliches Lachen – es gab bestimmt Menschen, auf die er anziehend wirkte.
Verkäuferinnen in Schokoladenläden zum Beispiel, die ihn kichernd bedienten, oder Platzanweiserinnen im Kino. Ich konnte mir genau vorstellen, wie er solche Mädchen ansah und mit einem Lächeln dabei vor sich hin pfiff. Ein Blick, unter dem man verlegen wurde.
Wie gut er wohl Manderley wirklich kennen mochte? Er schien sich ja ganz zu Hause zu fühlen, und Jasper hatte ihn zweifellos wiedererkannt. Aber diese beiden Tatsachen paßten nicht zu dem, was Maxim zu Mrs. Danvers gesagt hatte; und Favell selbst paßte auch nicht zu meiner Vorstellung von Rebecca. Wie kam Rebecca mit ihrer Schönheit, ihrem Charme und ihrer Vornehmheit zu einem solchen Vetter? Diese Verwandtschaft kam mir so
unwahrscheinlich vor. Ich er-klärte es mir schließlich so, daß er das schwarze Schaf der Familie sein mußte und daß Rebecca sich in ihrer Gutmütigkeit seiner mitleidig von Zeit zu Zeit angenommen hatte und ihn nach Manderley einlud, wenn Maxim nicht da war.
Vielleicht hatte diese Gutmütigkeit sogar zu Auseinandersetzungen geführt; Rebecca hatte ihn verteidigt, und später war bei der Erwähnung seines Namens immer ein peinliches Schweigen eingetreten.
Als ich mich im Eßzimmer auf meinen Platz setzte, Maxim mir gegenüber, stellte ich mir vor, wie Rebecca auf meinem Platz gesessen hatte und gerade ihre Gabel aufnehmen wollte, als das Telephon klingelte und Frith hereinkam, um zu melden: «Mr. Favell möchte Sie sprechen, Madam.» Und wie Rebecca sich dann mit einem Blick auf Maxim erhoben hatte, der schweigend, ohne hochzusehen, weiteraß. Und als sie dann zurückkam und sich wieder hinsetzte, hatte sie bestimmt heiter und unbefangen von etwas ganz anderem geredet, um die kleine Mißstimmung zu verscheuchen. Und ich hörte in Gedanken Maxims ein-silbige Antworten; aber allmählich erhellte sich sein Gesicht dann wieder, als sie ihm von irgendeinem Erlebnis in Kerrith erzählte, und bevor der nächste Gang gereicht wurde, lachte er über ihr lustiges Geplauder und streckte ihr versöhnt die Hand über den Tisch hin.
«Wo steckst du denn mit deinen Gedanken?» fragte Maxim.
Ich fuhr zusammen, und das Blut schoß mir ins Gesicht, denn in dieser winzigen Zeitspanne hatte ich mich so mit Rebecca identifiziert, daß mein eigenes langweiliges Ich gar nicht zu existieren schien. Ich war nicht nur in Gedanken, sondern buchstäblich in Person in der Vergangenheit gewesen.
«Weißt du, daß du, anstatt deinen Fisch zu essen, mir die sonderbarsten Grimassen und Gliederverrenkungen vorgeführt hast?» fuhr Maxim fort. «Erst lauschtest du, als ob du das Telephon klingeln hörtest, und dann bewegtest du die Lippen und warfst mir einen Blick zu und schütteltest den Kopf und lächeltest und zucktest die Achseln. Alles in wenigen Sekunden. Übst du schon für den Kostümball?»
Er sah mich lachend an, und ich fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn er wüßte, was in meinem Herzen und in meinen Gedanken vor sich gegangen war, daß er für einen Augenblick ein anderer Maxim und ich Rebecca gewesen war. «Du siehst aus wie eine kleine Verbrecherin», sagte er. «Was hast du denn?»
«Nichts», sagte ich rasch. «Ich habe gar nichts.»
«Sag mir doch, woran du gedacht hast.»
«Warum denn? Du sagst mir ja auch nie, woran du denkst.»
«Meines Wissens hast du mich auch nie danach gefragt.»
«Doch, einmal.»
«Daran kann ich mich nicht erinnern.»
«Wir saßen in der Bibliothek.»
«Das tun wir ja öfter, und was antwortete ich dir?»
«Du behauptetest, du hättest dir überlegt, ob Surrey gegen Middlesex spielen würde.»
Maxim lachte wieder. «Was für eine Enttäuschung das gewesen sein muß! Was hofftest du denn zu hören?»
«Was ganz anderes.»
«Was denn bloß?»
«Ach, ich weiß nicht.»
«Ja, das scheint mir auch. Wenn ich dir sagte, daß ich über Surrey und Middlesex nachdachte, dann dachte ich auch an Surrey und Middlesex. Männer sind viel einfachere Wesen, als du denkst, mein liebes Kind. Was sich dagegen in den verzwickten Windungen des weiblichen Gehirns abspielt, das
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