Rebecka Martinsson 01 - Sonnensturm
Reihe saß. Sein Stiernacken quoll über seinen weißen Kragen. Neben ihm saß Thomas Söderberg und versuchte, sich auf die Predigt des Abends zu konzentrieren. Sie sah, wie Gunnar sich dazu zwang, in die Bibel zu schauen, wild entschlossen, nicht zu stören, um sich dann zu vergessen und loszuplappern. Seine rechte Hand fegte immer wieder in weitem Bogen durch die Luft.
Nach den Weihnachtsfeiertagen wollte er abnehmen. An diesem Tag hatte er das Mittagessen ausfallen lassen. Sie hatte am Küchentisch gesessen und Spaghetti um ihre Gabel gewickelt, während er an den Spülstein gelehnt drei Birnen verzehrte. Schmatzend und schlürfend. Sein breiter Rücken hing über dem Spülstein, seine linke Hand drückte den Schlips auf seinen Bauch.
Sie schaute auf die Uhr. In einer Viertelstunde würde er seinen Platz neben Thomas Söderberg verlassen, sich zum Auto schleichen, zum Kiosk fahren und in aller Heimlichkeit einen Hamburger essen. Und mit dem Mund voller Pfefferminzkaugummi zurückkehren.
Lüge lieber Leute an, die sich dafür interessieren, was du machst, hätte sie schreien mögen. Mir ist das doch egal!
Anfangs war er ein ganz anderer gewesen. Hatte als Hausmeister in der Bergaschule ausgeholfen, wo sie unterrichtete. Und nebenbei studierte, was ihn sehr beeindruckt hatte. Es war eine laute, deutliche Werbung gewesen. In ihren Freistunden hatte er immer neue Vorwände gefunden, um das Lehrerzimmer aufzusuchen. Er hatte gescherzt, polternd gelacht und über einen niemals versiegenden Vorrat an schlechten Witzen verfügt. Doch unter allem hatte eine Unsicherheit gelegen, die sie gerührt hatte. Dazu kamen die begeisterten Kommentare der Kolleginnen. Und die Art, wie er entzückt in die Hände klatschte, wenn sie beim Friseur gewesen war oder eine neue Bluse trug. Sie sah ihn auf dem Schulhof mit den Kindern reden. Die vergötterten ihn. Er war ein lieber Hausmeister. Da war es ihr doch egal, dass er keine Bücher las.
Erst später, als er im Schatten Thomas Söderbergs und Vesa Larssons stand, war sein Bedürfnis an Selbstbehauptung erwacht.
Aber damals. Sie war mit ihm zur Baptistenkirche gegangen. Die Gemeinde war damals vom Aussterben bedroht gewesen. Nein, falsch. Sie war zum Aussterben verurteilt gewesen. Die Gottesdienstbesucher schienen auf dem Weg zum Grab nur noch einmal kurz hereinzuschauen. Signe Persson, die schütteren Haare zu einer sorgfältigen Dauerwelle gelegt. Die durch die Haare hindurchleuchtende Kopfhaut war dünn und hatte braune Flecken. Arvid Kalla, ehemals Packer bei der LKAB, jetzt im Halbschlaf auf der Kirchenbank, die großen Fäuste ohnmächtig auf den Knien.
Natürlich konnten sie sich keinen Pastor leisten, es gab ja kaum Geld, um die Kirche zu beheizen. Gunnar Isaksson leitete die Gemeinde als Einmannbetrieb. Reparierte und wartete, wozu eben Geld vorhanden war. Seufzte immer wieder. Zum Beispiel über die Feuchtigkeitsschäden in der Garderobe. Über die Wand, die sich wie ein geschwollener Leib nach außen wölbte. Über die Tapete, die sich immer wieder von der Wand löste. An sich hätten die Gemeindemitglieder abwechselnd im Gottesdienst predigen sollen, der jeden zweiten Sonntag abgehalten wurde. Aber da sich sonst niemand freiwillig meldete, predigte immer Gunnar Isaksson.
In seinen Predigten war nur schwer ein roter Faden zu finden. Er schweifte hin und her durch die ihm seit seiner Jugend vertraute freikirchliche Landschaft. Dennoch blieb die Route sich gleich, mit ihren obligatorischen Pausen an vertrauten Stellen wie »Geisttaufe«, »sehet, alles wird neu« und »direkt aus der Quelle schöpfen«. Die Reise endete immer und ausnahmslos mit einer Erweckungspredigt für die wohlwollende und längst bekehrte Gemeinde.
Ein Trost war, dass es auch um die anderen Gemeinden der Stadt nicht anders bestellt war. Gottes Tempel in Kiruna: eine baufällige Hütte, in der die stickige Luft einfach stillstand.
Jetzt erhob Gunnar sich und ging auf den Ausgang zu. Ehrerbietig verlangsamte er seine Schritte an der Stelle, an der Viktor Strandgårds Leichnam gelegen hatte. Dort lag bereits ein Haufen Blumen und Karten. Er lächelte und zwinkerte seiner Frau kurz zu. Das sollte heißen, dass er nur kurz zur Toilette oder mit jemandem in der Garderobe ein paar Worte wechseln wollte.
Er war nicht dumm. Durchaus nicht. Allein, dass er es so weit gebracht hatte. Bis an die Spitze dieser Gemeinde, zusammen mit Thomas Söderberg und Vesa Larsson. Ohne theologische Ausbildung. Ohne
Weitere Kostenlose Bücher