Rebecka Martinsson 01 - Sonnensturm
abendlichen Andacht mit dem Gospelchor.
Der im Eilschritt zurückgelegte steile Weg vom Parkplatz zur Kirche hatte ihre Bluse unter den Armen schweißnass werden lassen. Wie gut, dass sie darüber eine Strickjacke trug. Hastig fuhr sie sich mit dem Zeigefinger über den unteren Augenrand, für den Fall, dass ihre Wimperntusche verschmiert war. Einmal hatte sie sich auf einer der gemeindeeigenen Videoaufnahmen gesehen. Es hatte geschneit, als sie zur Kirche gegangen war, und auf dem Video sah sie beim Einsammeln der Kollekte aus wie ein dressierter Pandabär. Seither schaute sie immer in den Spiegel. Aber in der Garderobe wimmelte es nur so von Leuten, und sie hatte es schließlich eilig.
Vorne in dem neu entstandenen Kreis lag ein Haufen aus Blumen und Karten.
Viktor ist tot, dachte sie.
Sie versuchte, sich das wirklich klarzumachen.
Viktor ist wirklich tot.
Jetzt fiel ihr Blick auf Karin und Maja. Maja winkte ihr eifrig zu. Hier gab es kein Entrinnen. Sie musste einfach hingehen. Die beiden waren dunkel gekleidet. Sie selbst hatte eine Stunde lang ihren Kleiderschrank durchwühlt und sich immer wieder umgezogen. Sie besaß nur rote, rosa und gelbe Kostüme. Und ein dunkles. Marineblau. Nur konnte sie den Reißverschluss einfach nicht schließen. Am Ende nahm sie eine lange Strickjacke, die Hintern und Oberschenkel fortzauberte. Als sie jetzt Maja und Karin entdecke, kam sie sich vor wie eine Schlampe. Wie eine verschwitzte Schlampe.
»Wo steckt denn Vesa?«, flüsterte Maja, noch ehe Astrid sich gesetzt hatte.
Freundliches Lächeln. Unheil drohende Blicke.
»Krank«, flüsterte sie. »Grippe.«
Sie konnte sehen, dass die anderen ihr nicht glaubten. Maja kniff die Lippen zusammen und atmete durch die Nase ein.
Und sie hatten ja Recht. Astrid spürte im ganzen Leib, dass sie nicht hier sitzen wollte, aber sie ließ sich trotzdem neben Maja auf einen Stuhl sinken.
Und jetzt hatte Thomas das Gebet mit dem Chor beendet und kam zu ihnen herüber.
Vor dem muss ich mich jetzt also auch noch verantworten, dachte sie.
Sie zuckte zusammen, als Thomas Maja die Hand auf den Arm legte und ihr kurz und warm zulächelte. Danach erkundigte er sich nach Vesa. Astrid gab dieselbe Antwort wie vorhin: Krank. Grippe. Er blickte sie mitfühlend an.
Ich tue ihm Leid, weil ich so einen schwachen Mann habe, dachte sie.
»Wenn du dir Sorgen um ihn machst, dann geh lieber nach Hause«, sagte Thomas.
Brav schüttelte sie den Kopf.
Sorgen machen. In Gedanken kostete sie dieses Wort aus.
Nein, Sorgen hätte sie sich vor Jahren machen müssen. Aber da war sie mit Hausbauen und mit den Kindern beschäftigt gewesen. Und als sie festgestellt hatte, dass es Grund zur Beunruhigung gab, war es schon zu spät und Zeit für Trauer gewesen. Sie musste lernen, mit der Schande zu leben, dass sie für Vesa nicht gut genug war.
Es war diese Schande. Die sie dazu brachte, sich neben Maja zu setzen, obwohl sie das nicht wollte. Die sie dazu brachte, vor dem offenen Kühlschrank zu stehen und tiefgefrorene Plätzchen zu verschlingen, wenn die Kinder in der Schule waren.
Natürlich schliefen sie noch immer miteinander, auch wenn es nur noch selten vorkam. Und es geschah in der Dunkelheit. Schweigend.
Und dann an diesem Morgen. Die Kinder waren zur Schule gegangen. Vesa hatte im Atelier geschlafen. Als sie ihm den Kaffee brachte, saß er in seinem Flanellschlafanzug auf der Bettkante. Unrasiert und übernächtigt. Scharfe Falten um die Mundwinkel. Seine langen schönen Künstlerhände lagen hilflos auf seinen Knien. Der Boden um das Bett war mit Büchern bedeckt. Mit teuren, eingebundenen Kunstbänden mit dicken Hochglanzseiten. Mehrere handelten von Ikonenmalerei. Es gab auch dünne Taschenbücher aus ihrem eigenen Verlag. Anfangs hatte Vesa die Umschläge entworfen. Dann hatte er es sich plötzlich in den Kopf gesetzt, dass er dazu keine Zeit mehr habe.
Sie stellte das Tablett mit Kaffee und Butterbroten auf den Boden. Danach kniete sie sich hinter ihn. Nahm seine Hüften zwischen ihre Oberschenkel. Ihr Bademantel öffnete sich und sie schmiegte Brust und Wange an seinen Rücken und ließ zugleich ihre Hände über seine harten Schultern gleiten.
»Astrid«, sagte er darauf nur.
Gequält und müde. Er füllte ihren Namen mit Ausflüchten und Schuldgefühlen.
Sie war nach unten in die Küche geflohen. Hatte Radio und Spülmaschine eingeschaltet. Hatte Balu auf den Schoß genommen und ins Fell des Hundes geweint.
Thomas Söderberg beugte
Weitere Kostenlose Bücher