Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
Kopf.
»Verlass mich nicht«, bittet sie.
Jetzt weint auch Lisa. Führt Mildred zum Auto, schnallt sie an wie ein hilfloses Kind, holt eine Packung Spinat aus der Tiefkühltruhe.
Wochen vergehen, bis sie wieder aneinander geraten. Mildred hält Lisa ab und zu die Innenseite ihrer verbundenen Hand hin. Wie zufällig, wie um sich die Haare hinter die Ohren zu streichen oder so. Es ist ein geheimes Liebeszeichen.
Jetzt ist es dunkel. Lisa denkt nicht mehr an Mildred und geht zum Hühnerstall. Die Hühner schlafen auf ihren Stangen. Aneinander geschmiegt. Sie nimmt eins nach dem anderen herunter. Hebt sie von der Stange. Trägt sie an die Grundstücksgrenze. Drückt sie an sich, die Hühner haben keine Angst, sie glucksen nur ein wenig. Dort steht ein Baumstumpf, der als Hackklotz fungieren kann.
Rascher Griff um die Beine, gegen den Baumstumpf mit dem Tier, ein betäubender Schlag. Dann das Beil, Zugriff direkt unter der Klinge, der Schlag, nur ein einziger, hart genug, trifft genau. Sie hält die Beine fest, während das Huhn noch flattert, sie kneift die Augen zu, um keine Federn oder Blut ins Auge zu bekommen. Am Ende liegen dort zehn Hühner und ein Hahn. Sie vergräbt sie nicht. Die Hunde würden sie ja sofort wieder ausbuddeln. Sie wirft sie in die Mülltonne.
Lars-Gunnar Vinsa fährt im Dunkeln nach Hause. Teddy schläft neben ihm auf dem Beifahrersitz. Sie waren den ganzen Tag Himbeeren pflücken. Und jetzt gibt es viele Gedanken. Die durch seinen Kopf wirbeln. Alte Erinnerungen.
Plötzlich kann er Eva vor sich sehen, Teddys Mutter. Er ist gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Er hatte Spätdienst, und es ist dunkel draußen, aber sie hat kein Licht gemacht. Steht ganz still in der Dunkelheit vor der Dielenwand, als er das Haus betritt.
Er findet ihr Verhalten so merkwürdig, dass er einfach fragen muss: »Was ist los?« Und sie antwortet:
»Ich sterbe hier, Lars-Gunnar. Es tut mir leid, aber ich sterbe hier.«
Was hätte er tun sollen? Als ob er nicht auch todmüde gewesen wäre. Tagein, tagaus ging er zur Arbeit und hatte mit allem Elend der Welt zu tun. Und dann kam er nach Hause, um sich um Teddy zu kümmern. Noch heute begreift er nicht, was Eva damals den ganzen Tag getrieben hat. Die Betten waren nie gemacht. Nur sehr selten hatte sie etwas gekocht. Er ging schlafen. Bat sie, mit nach oben zu kommen, aber sie wollte nicht. Am nächsten Tag war sie verschwunden. Hatte nur ihre Handtasche mitgenommen. Nicht einmal einen Brief war sie ihm also wert gewesen. Er musste ihre Habseligkeiten in Kartons packen und auf den Dachboden stellen.
Nach einem halben Jahr rief sie an. Wollte mit Teddy sprechen. Er erklärte, dass das nicht möglich sei. Er erklärte, wie Teddy nach ihr gesucht hatte, wie er in der ersten Zeit immer wieder gefragt und geweint hatte. Aber jetzt sei es besser. Er erzählte ihr, wie es dem Jungen ging, schickte ihr Zeichnungen. Er sah den Leuten im Ort an, dass die fanden, er sei zu lieb. Zu nachgiebig. Aber er wollte ihr doch nichts Böses. Wozu hätte das gut sein sollen?
Und die Tanten vom Sozialamt, die plapperten darüber, dass Teddy in eine Wohngemeinschaft ziehen sollte.
»Er kann doch auch nur ab und zu dort wohnen«, sagten sie. »Damit Sie ein wenig entlastet sind.«
Er hatte sich diese verdammten Wohngemeinschaften angesehen. Man wurde ja schon deprimiert, wenn man nur einen Fuß über die Schwelle setzte. Von allem. Von dieser Hässlichkeit, bei der jeder Gegenstand »Anstalt« schrie, »Aufbewahrungsort für Verrückte, Zurückgebliebene und Krüppel«. Von den Ziergegenständen, die offenbar von den Bewohnern hergestellt worden waren, Gipsabgüsse und Perlenplatten und grauenhafte Bilder in billigen Rahmen. Und vom Gezwitscher des Personals. Von den gestreiften Baumwollkitteln. Er weiß noch, wie er eine davon angesehen hat. Sie kann nicht größer als eins fünfzig gewesen sein. Er dachte: Und du willst dazwischengehen, wenn es hier Ärger gibt?
Teddy war zwar groß, aber er konnte sich nicht wehren.
»Niemals«, sagte Lars-Gunnar zu den Sozialamttanten.
Sie versuchten, ihm zuzureden.
»Sie brauchen Entlastung«, sagten sie. »Sie müssen auch an sich denken.«
»Nein«, hatte er gesagt. »Wieso denn? Warum muss ich an mich denken? Ich denke an den Jungen. Die Mutter des Jungen hat an sich gedacht, erzählen Sie mir doch mal, was dabei herausgekommen sein soll!«
Jetzt sind sie zu Hause. Lars-Gunnar fährt langsamer, als sie sich der Hofeinfahrt nähern.
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