Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
Er schaut zum Haus hinüber. Im Mondschein hat man ziemlich gute Sicht. Im Kofferraum liegt der Elchstutzen. Er ist geladen. Wenn ein Streifenwagen auf dem Hofplatz steht, wird er einfach weiterfahren. Wenn er entdeckt wird, bleibt ihm doch immer noch eine Minute. Ehe sie den Motor anlassen und auf die Straße fahren können. Oder jedenfalls dreißig Sekunden. Und das reicht.
Aber der Hofplatz ist leer. Vor dem Mond sieht er eine Eule, die im flachen Spähflug zum Ufer hinjagt. Er hält an und klappt den Fahrersitz so weit wie möglich zurück. Er will Teddy nicht wecken. Der Junge wird in ein paar Stunden von selbst aufwachen. Dann können sie ins Haus und ins Bett gehen. Er selbst wird auch ein wenig die Augen zumachen.
GELBBEIN
GELBBEIN LÄUFT aus ihrem Territorium. Dort kann sie nicht bleiben. Sie überquert die Grenze zum Revier eines anderen Rudels. Auch dort kann sie nicht bleiben. Das wäre zu gefährlich. Eine gut markierte Gegend. Frisch gesetzte Duftmarken wie Stacheldraht zwischen den Baumstämmen. Durch das hohe Gras, das aus dem Schnee ragt, zieht sich eine Mauer aus Gerüchen dahin, hier haben sie gepisst und die Pisse mit den Hinterbeinen verteilt. Aber sie muss hier durch, sie muss nach Norden.
Die erste Tagesetappe geht gut. Sie läuft mit leerem Magen. Pisst geduckt, drückt sich an den Boden, damit der Geruch sich nicht ausbreitet, vielleicht kann sie es schaffen. Sie hat Rückenwind, das ist gut.
Am nächsten Morgen nehmen sie ihre Witterung auf. Zwei Kilometer hinter ihr stehen fünf Wölfe und drücken die Nasen in Gelbbeins Spuren. Dann setzen sie ihr nach. Sie wechseln sich an der Spitze ab und haben sie bald in Sichtweite.
Gelbbein nimmt ihren Geruch wahr. Sie hat einen Fluss überquert, und als sie sich umdreht, sieht sie sie am anderen Ufer, einen knappen Kilometer flussabwärts.
Jetzt rennt sie um ihr Leben. Ein Eindringling wird sofort getötet. Die Zunge hängt weit aus ihrem aufgerissenen Maul. Die langen Beine tragen sie durch den Schnee, vor ihr gibt es keine Fährten.
Die Beine finden die Spur eines Schneemobils, die in die richtige Richtung führt. Die anderen holen auf, aber nicht so schnell.
Als sie nur dreihundert Meter hinter ihr sind, bleiben sie plötzlich stehen. Sie haben Gelbbein aus ihrem Revier und noch ein Stück weiter gejagt.
Sie ist entkommen.
Noch ein Kilometer, dann legt sie sich hin. Schnappt nach Schnee.
Der Hunger reißt an ihrem Gedärm.
Sie wandert weiter nach Norden. Dort, wo das Weiße Meer die Halbinsel Kola von Karelien trennt, biegt sie nach Nordwesten ab.
Es ist jetzt Spätwinter. Das Laufen fällt ihr schwer.
Wald. Hundert Jahre alte und ältere Bäume. Nackte, spitze, nadellose Bäume fast überall. Und dort oben Bilder von grünem Wehen, rauschenden Armen. Die Sonne kann kaum durchdringen, kann den Schnee noch nicht schmelzen. Es gibt nur Lichtflecken und tropfendes Schmelzwasser von den höchsten Wipfeln. Es tropft, gluckst, tränt. Alle wittern Frühling und Sommer. Jetzt kann man mehr tun als nur überleben. Der Schlag von schweren Waldvogelflügeln, der Fuchs, der immer häufiger seinen Bau verlässt, Wühlmäuse und Mäuse, die auf dem morgens noch festen Schnee laufen. Und dann das plötzliche Schweigen, wenn der ganze Wald innehält, Atem holt und auf die vorüberlaufende Wölfin horcht. Nur der Schwarzspecht hackt weiterhin stur auf den Baumstamm ein. Und auch das Tropfen verstummt nicht. Der Frühling hat keine Angst vor der Wölfin.
Moor. Der Spätwinter ist eine weiche Wasserfläche unter einer matschigen Schneedecke, die sich bei der geringsten Berührung in grauen Schlamm verwandelt. Mit jedem Schritt sinkt sie tief ein. Die Wölfin wandert jetzt bei Nacht weiter. Dann trägt die Schneedecke noch. Tagsüber sucht sie sich ein Lager in einer Mulde oder unter einer Tanne. Noch im Schlaf auf der Hut.
Die Jagd ist anders ohne das Rudel. Sie reißt einen Hasen und anderes Kleinwild. Nicht viel für eine Wölfin auf Wanderung.
Ihre Beziehung zu anderen Tieren hat sich auch geändert. Füchse und Raben sammeln sich gern um Rudel. Die Raben fressen die Reste, die das Rudel hinterlässt. Die Wölfe graben Fuchslöcher aus und nehmen sie in Besitz. Die Raben säubern den Tisch der Wölfe. Die Raben rufen aus den Bäumen: Hier kommt Beute! Hier steht ein brünftiger Hirsch und reibt sein Geweih an einem Baumstamm. Holt ihn euch, holt ihn euch! Ein erschöpfter Rabe kann vor einem schlafenden Wolf zu Boden fallen, ihm auf den Kopf
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