Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
picken und ein paar Schritte zurückgehen. Auf seine alberne und unbeholfene Weise herumhüpfen. Der Wolf macht einen Ausfall. In letzter Sekunde hebt der Vogel ab. So können sie sich gegenseitig eine ganze Weile unterhalten, der Schwarze und der Graue.
Aber eine einsame Wölfin ist keine Spielkameradin. Sie verschmäht keine Beute, sie hat keine Lust auf ein Spiel mit einem Vogel, sie teilt nichts freiwillig.
Eines Morgens überrascht sie bei ihrer Mulde eine Füchsin. Mehrere Löcher sind an einem Hang gegraben. Ein Loch liegt unter einem umgestürzten Baum versteckt. Nur Spuren und ein wenig Erde auf dem Schnee davor können die Lage verraten. Nun kommt die Füchsin heraus. Die Wölfin hat ihren scharfen Gestank schon längst wahrgenommen und ist ein wenig von ihrer Richtung abgewichen. Jetzt kommt sie im Gegenwind den Hang herab, sieht, wie die Füchsin aus dem Bau schaut, sieht den mageren Körper. Die Wölfin bleibt stehen, erstarrt, die Füchsin muss noch weiter herauskommen, aber kaum dass sie den Kopf bewegt, wird sie die Wölfin entdecken.
Ein Sprung. Als wäre sie eine Katze. Sie durchbricht das Unterholz und die Zweige der umgestürzten jungen Fichte. Ihre Krallen ziehen sich über den Rücken der Füchsin. Brechen ihr das Rückgrat. Sie verschlingt das andere Tier gierig, presst es mit einer Pfote nach unten und reißt das wenige Fleisch herunter, das es ihr bietet.
Gleich kommen zwei Krähen angeflattert und wollen auch etwas abhaben. Die eine setzt ihr Leben aufs Spiel, kommt der Wölfin gefährlich nahe, aber die andere kann derweil ganz schnell einen Bissen stehlen. Die Wölfin schnappt nach ihnen, als sie im Sturzflug auf ihren Kopf zujagen, aber ihre Pfote lässt den Fuchsrumpf nicht los. Sie verschlingt alles, dann läuft sie zwischen den Löchern hin und her und wittert. Wenn die Füchsin Junge hatte und sie nicht zu tief unten liegen, kann sie sie ausbuddeln, aber sie findet keine.
Sie macht sich wieder auf den Weg. Die Beine der einsamen Wölfin wandern ruhelos immer weiter.
Montag, 11. September
»ER IST WIE VOM ERDBODEN verschwunden.«
Anna-Maria Mella sah ihre Kollegen an. Sie hatten sich zur Frühbesprechung beim Staatsanwalt versammelt. Eben war festgestellt worden, dass sie keinerlei Spur von dem verschwundenen Pastor Stefan Wikström hatten.
Sechs Sekunden lang herrschte vollkommenes Schweigen. Polizeiinspektor Fred Olsson, Staatsanwalt Alf Björnfot, Sven-Erik Stålnacke und Polizeiinspektor Tommy Rantakyrö machten betrübte Gesichter. Etwas Schlimmeres, als dass der Pastor spurlos verschwunden war, konnten sie sich überhaupt nicht vorstellen. Er konnte doch irgendwo verbuddelt worden sein.
Sven-Erik sah also betrübt aus. Er war als Letzter zu dieser Morgenandacht beim Staatsanwalt erschienen. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Er hatte ein kleines Pflaster am Kinn. Es war von Blut rötlich verfärbt. Ein männliches Symbol für einen missratenen Morgen. Die Haare an seinem Hals unter dem Adamsapfel waren in der Eile dem Rasierer entkommen und standen wie grobe graue Borsten von der Haut ab. Unter dem einen Mundwinkel klebten Reste von eingetrocknetem Rasierschaum wie weißer Kitt.
»Na, bisher ist es nur ein Fall von Verschwinden«, stellte der Staatsanwalt fest. »Es war doch ein Diener der Kirche. Der erfahren hat, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind, was diese Reise angeht, die seine Familie für das Geld der Wolfsstiftung unternommen hat. Das kann durchaus genug sein, um die Beine in die Hand zu nehmen. Die Angst, dass sein Ruf jetzt ruiniert ist. Vielleicht taucht er als Nächstes wie ein Springteufelchen wieder auf.«
Alle am Tisch schwiegen. Alf Björnfot schaute sich um. Alle hier waren in ihrer Arbeit absolut engagiert. Sie schienen nur darauf zu warten, dass der Leichnam des Pastors auftauchte. Mit Spuren und Beweisen, damit neuer Schwung in die Ermittlungen kommen könnte.
»Was wissen wir über die Zeit vor seinem Verschwinden?«, fragte er.
»Er hat am Freitagabend gegen fünf vor sieben seine Frau angerufen«, sagte Fred Olsson. »Dann hatte er in der Kirche einen Jugendabend, hat den Versammlungsraum aufgeschlossen und gegen halb zehn eine Abendandacht abgehalten. Er ist dort um kurz nach zehn aufgebrochen und seither nicht mehr gesehen worden.«
»Sein Auto?«, fragte der Staatsanwalt.
»Steht hinter dem Gemeindehaus.«
Das ist aber eine ziemlich kurze Strecke, dachte Anna-Maria. Der Versammlungsraum der Jugendgruppen und die Rückseite
Weitere Kostenlose Bücher