Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
Mildred macht sie müde und traurig. Sie hat es so ungeheuer satt, immer an Mildred zu denken. In ihrem Kopf gibt es keinen Platz für andere Dinge. Mildred und Mildred. Wo ist sie, was macht sie, was sagt sie, wie hat sie dieses oder jenes gemeint? Sie kann sich einen ganzen Tag nach Mildred sehnen, nur um sich dann mit ihr zu zerstreiten, wenn sie endlich kommt. Die Wunde in Mildreds Hand ist schon längst verheilt. So, als habe es sie nie gegeben.
Lisa schaut auf die Uhr. Es ist weit nach Mitternacht. Sie nimmt Majken an die Leine und geht hinaus auf die Hauptstraße. Will beim Anleger nachsehen, ob Mildreds Boot noch dort liegt.
Auf dem Weg dorthin kommt sie an Lars-Gunnars und Teddys Haus vorbei.
Ihr fällt auf, dass das Auto nicht auf dem Hofplatz steht.
Seither. Seither denkt sie jeden Tag daran. Die ganze Zeit. Dass Lars-Gunnars Auto nicht auf dem Hofplatz stand. Dass Lars-Gunnar der Einzige ist, den Teddy hat. Dass nichts Mildred wieder zum Leben erwecken kann.
MÅNS WENNGREN RUFT AN und weckt Rebecka Martinsson. Ihre Stimme klingt warm und verschlafen.
»Hoch mit dir!«, kommandiert er. »Trink Kaffee, und iss ein Brot. Dusch dich, und mach dich fertig. Ich rufe in zwanzig Minuten wieder an. Dann musst du weit sein.«
Das macht er nicht zum ersten Mal. Als er mit Madelene verheiratet war und ihre zeitweise Platzangst und Panikattacken und Gott weiß was sonst noch alles noch ertragen konnte, hat er mit ihr alle Zahnarztbesuche, Familientreffen und Schuheinkäufe im Warenhaus durchgesprochen. Es ist eben doch alles zu irgendwas gut…und jetzt beherrscht er immerhin die Technik.
Nach zwanzig Minuten ruft er wieder an. Rebecka antwortet wie ein braves Pfadfindermädel. Jetzt soll sie sich ins Auto setzen, in die Stadt fahren und so viel Geld abheben, dass sie ihre Hütte in Poikkijärvi bezahlen kann.
Als er sie das nächste Mal anruft, sagt er, dass sie nach Poikkijärvi fahren, vor dem Lokal halten und ihn anrufen soll.
»So«, sagt Måns, als sie anruft. »Jetzt dauert es anderthalb Minuten, dann hast du es hinter dir. Geh rein und bezahl. Du brauchst kein Wort zu sagen, wenn du das nicht willst. Halt ihnen einfach das Geld hin. Wenn du das erledigt hast, dann setzt du dich ins Auto und rufst mich wieder an, okay?«
»Okay«, sagt Rebecka wie ein Kind.
Sie sitzt im Auto und schaut zum Lokal hinüber. Weiß und schäbig liegt es da in der scharfen Herbstsonne. Sie wüsste gern, wen sie dort wohl antreffen wird, Micke oder Mimmi?
LARS-GUNNAR SCHLÄGT die Augen auf. Stefan Wikström hat ihn im Traum geweckt. Sein jämmerliches Geschrei, klagend und flehend, als er am See in die Knie sinkt. Als er begreift.
Er ist im Sessel im Wohnzimmer eingenickt. Das Gewehr liegt auf seinem Knie. Mühsam erhebt er sich, mit steifem Rücken und verspannten Schultern. Er geht hoch in Teddys Zimmer. Teddy schläft noch immer tief.
Natürlich hätte er Eva niemals heiraten dürfen. Aber er war ja nur ein dummes Landei aus dem Norden. Leichte Beute für eine wie sie.
Groß war er immer schon. Bereits als Kind war er dick. Damals waren Kinder magere Wichte, die hinter Fußbällen herjagten. Sie waren dünn und schnell und warfen Schneebälle auf dicke Jungen, die nach Hause trotteten, so rasch ihre Beine sie trugen. Heim zu Vatern. Der mit dem Gürtel zuschlug, wenn er in der richtigen Stimmung war.
Ich habe gegen Teddy nie die Hand erhoben, denkt er. Das würde ich niemals tun.
Der dicke Knabe Lars-Gunnar aber wuchs heran und war trotz aller Schikanen ein sehr guter Schüler. Er machte eine Ausbildung bei der Polizei und zog dann wieder nach Hause. Und jetzt war er ein anderer. Es ist nicht leicht, in seinen Heimatort zurückzukommen, ohne in die alte Rolle zu fallen. Aber Lars-Gunnar hatte sich in diesem Jahr auf der Polizeischule verändert. Und einem Polizisten kommt man nicht dumm. Er hatte auch neue Freunde. In der Stadt. Kollegen. Er wurde in die Jagdgesellschaft aufgenommen. Und da er keine Angst vorm Zupacken hatte und ein guter Planer war, wurde er bald Jagdleiter. Eigentlich hätte dieses Amt rotieren sollen, aber so weit kam es nie. Lars-Gunnar denkt, dass es für die anderen sicher auch bequem war, einen zu haben, der plante und organisierte. In einem kleinen Winkel seines Bewusstseins ist ihm aber auch klar, dass niemand es gewagt hätte, seinen Anspruch auf den Posten des Jagdleiters in Frage zu stellen. Das ist gut so. Respekt kann nicht schaden. Und er hat diesen Respekt verdient. Hat ihn nicht
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