Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
ausgenutzt, wie viele andere das getan hätten.
Nein, sein Fehler war wohl eher immer, dass er zu lieb war. Dass er seine Mitmenschen zu positiv gesehen hat. So wie Eva.
Es ist schwer, sich keine Vorwürfe zu machen. Aber er war schon über fünfzig, als er sie kennen lernte. Hatte ein Leben lang allein gelebt, denn das mit den Frauen hatte einfach nicht klappen wollen. Bei denen war er noch immer träge wie früher, war sich seines Leibesumfangs allzu bewusst. Und dann Eva. Die ihren Kopf an seine Brust schmiegte. Ihr Kopf verschwand fast in seiner Hand, wenn er sie an sich zog. »Du kleines Wesen«, sagte er dann immer.
Aber später, als ihr das nicht mehr gut genug war, war sie verschwunden. Hatte ihn und den Kleinen verlassen.
Er kann sich kaum an die Monate nach ihrem Verschwinden erinnern. Sie sind für ihn ein dunkles Loch. Er hatte das Gefühl, dass der ganze Ort ihn anstarrte. Und er hätte gern gewusst, was hinter seinem Rücken getuschelt wurde.
Teddy dreht sich mühsam im Bett um. Das Bettgestell ächzt.
Ich muss…, denkt Lars-Gunnar und verliert den Faden.
Es ist schwer, sich zu konzentrieren. Aber der Alltag. Der muss weitergehen. Das ist doch der Sinn von allem. Sein und Teddys Alltag. Das Leben, das Lars-Gunnar für sie beide aufgebaut hat.
Ich muss einkaufen, denkt er. Milch und Zwieback und Aufschnitt. Wir haben fast gar nichts mehr im Haus.
Er geht die Treppe hinunter und ruft Mimmi an.
»Ich fahre in die Stadt«, sagt er. »Teddy schläft, und ich will ihn nicht wecken. Wenn er zu euch kommt, dann gib ihm Frühstück, ja?«
»IST ER DA?«
Anna-Maria Mella hatte bei der Gerichtsmedizin in Lund angerufen. Am Telefon meldete sich Obduktionstechnikerin Anna Granlund, Anna-Maria aber wollte mit dem Oberarzt Lars Pohjanen sprechen. Anna Granlund hütete ihn wie eine Mutter ihr krankes Kind. Sie hielt im Obduktionssaal perfekte Ordnung. Schnitt für ihn die Leichen auf, entnahm Organe, legte sie zurück, wenn er fertig war, nähte die Leichen zu und schrieb auch größere Teile seiner Berichte.
»Er darf nicht aufhören«, hatte sie einmal zu Anna-Maria gesagt. »Du weißt, das wird am Ende wie eine Ehe, ich habe mich an ihn gewöhnt, ich will keinen anderen.«
Und Lars Pohjanen hielt durch. Atmete durch ein Luftrohr. Allein schon das Reden ließ ihn in Atemnot geraten. Einige Jahre zuvor war er wegen Lungenkrebs operiert worden.
Anna-Maria konnte ihn vor sich sehen. Vermutlich schlief er gerade auf dem genoppten Sofa aus den siebziger Jahren im Personalraum. Den Aschenbecher neben den abgenutzten Holzschuhen. Den grünen Operationskittel als Decke.
»Ja, er ist hier«, antwortete Anna Granlund. »Einen Moment.«
Dann Pohjanens Stimme am anderen Ende der Leitung, röchelnd und rau.
»Erzähl«, sagte Anna-Maria Mella, »du weißt, wie ungern ich lese.«
»Viel gibt es nicht. Hrrrm. Von vorn in die Brust geschossen. Dann aus nächster Nähe in den Kopf. Im Austrittsloch im Kopf zeigt sich der Explosionseffekt.«
Langes Einatmen, das Röcheln durch das Luftröhrchen.
»…vom Wasser aufgeweichte Haut, allerdings nicht geschwollen…aber ihr wisst ja, wann er verschwunden ist…«
»In der Nacht zum Samstag.«
»Da hat er wohl seither im See gelegen, nehme ich an. Wir haben kleine Verletzungen in den Teilen der Haut, die nicht von der Kleidung bedeckt waren, an den Händen und im Gesicht. Da haben die Fische schon mal zugelangt. Viel mehr gibt es nicht. Habt ihr die Kugeln gefunden?«
»Danach wird noch immer gesucht. Kein Kampf? Keine anderen Verletzungen?«
»Nein.«
»Und sonst?«
Pohjanens Stimme wurde schärfer.
»Mehr nicht, habe ich doch gesagt. Lass dir doch…von irgendwem den Bericht laut vorlesen.«
»Ich meine doch, bei dir.«
»Ach so, ach Scheiße«, sagte er und klang sofort freundlicher. »Bei mir ist alles beschissen, ist doch klar.«
Sven-Erik Stålnacke sprach mit der Gerichtspsychiaterin. Er saß auf dem Parkplatz in seinem Auto. Er mochte ihre Stimme. Schon von Anfang an hatte diese Wärme ihn angezogen. Und sie sprach langsam. Die meisten Frauen in Kiruna redeten so verdammt schnell. Und ziemlich laut. Sie waren wie Maschinengewehre, er hatte da keine Chance. Jetzt konnte er in Gedanken Anna-Maria hören: »Wieso denn keine Chance, wir haben doch keine Chance, keine Chance, in absehbarer Zeit eine brauchbare Antwort zu erhalten. Man fragt: Wie war das denn? Und dann ist es still, und dann ist es wieder still, und nach verdammt langem Nachdenken kommt
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