Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
sich gut um sie, alle Frauenzimmer.
Sie hätte natürlich auch etwas auf das Grab legen müssen. Aber was hätte das wohl sein sollen?
Sie sucht verzweifelt nach Worten. Nach einem Gedanken. Sie starrt Mildreds Namen auf dem grauen, feuchten Stein an. Mildred, Mildred, Mildred. Durchbohrt sich mit diesem Namen wie mit einem Messer.
Meine Mildred, denkt sie dann. Dich habe ich im Arm gehalten.
Erik Nilsson sieht Lisa aus der Ferne. Sie steht starr und passiv da und scheint durch den Stein hindurchzublicken. Die anderen Frauen knien immer und sprechen in die Erde hinein, machen sich am Grab zu schaffen, jäten Unkraut, reden mit anderen Besuchern.
Er war unterwegs zum Grab, bleibt jetzt aber für einen Moment stehen. Er kommt unter der Woche oft morgens her, um seine Ruhe zu haben. Die Magdalenabande, er hat nichts gegen sie, aber sie halten Mildreds Grab besetzt. Für ihn gibt es dort unter den Trauernden keinen Platz. Sie beladen das Grab mit Blumen und Kerzen. Legen kleine Steine oben auf den Grabstein. Sein Beitrag verschwindet in der Menge. Den anderen mag es ja recht sein, zu einem Trauerkollektiv zu gehören. Es ist ein Trost für sie, dass sie viele sind, die Mildred vermissen. Aber er. Es ist ein kindischer Gedanke, das weiß er. Er will, dass die anderen auf ihn zeigen und sagen: »Er war ihr Mann, für ihn ist es am schlimmsten.«
Mildred steht schräg hinter ihm.
Soll ich weitergehen?, fragt er.
Aber sie gibt keine Antwort. Lässt Lisa nicht aus den Augen.
Er geht auf Lisa zu. Räuspert sich rechtzeitig, um ihr keine Angst zu machen, sie scheint so versunken.
»Hallo«, sagt er vorsichtig.
Sie sind sich seit der Beerdigung nicht wieder begegnet.
Sie nickt und versucht, ein Lächeln zustande zu bringen.
Er will schon sagen: »Du hast also auch eine Frühstücksverabredung hier« oder etwas ähnlich Sinnloses, was das Uhrwerk zwischen ihnen ein wenig schmieren könnte. Aber dann überlegt er es sich anders. Er sagt ernst: »Man hatte sie nur geliehen. Man kann das zwar verdammt noch mal nicht einsehen, wenn man mit jemandem zusammen ist. Ich war oft böse auf sie, wegen allem, was ich nicht bekommen habe. Jetzt wünschte ich, ich hätte…ich weiß nicht…das, was ich bekommen konnte, voller Freude angenommen, statt mich mit dem zu quälen, was es nicht gab.«
Er sieht sie an. Sie schaut ausdruckslos zurück.
»Ich rede und rede«, sagt er abwehrend.
Sie schüttelt den Kopf.
»Nein, nein«, bringt sie heraus. »Es ist nur…ich kann nicht…«
»Sie war immer so beschäftigt, hat die ganze Zeit gearbeitet. Jetzt, wo sie tot ist, habe ich endlich das Gefühl, dass wir Zeit füreinander haben. So, als ob sie in Pension gegangen wäre.«
Er sieht Mildred an. Sie ist in die Hocke gegangen und liest die Karten auf dem Grab. Ab und zu lächelt sie strahlend. Sie nimmt die Steine vom Grabstein und hält sie in der Hand. Einen nach dem anderen.
Er verstummt. Wartet darauf, dass Lisa vielleicht fragt, wie es ihm geht. Wie er zurechtkommt.
»Ich muss gehen«, sagt sie. »Ich hab die Hunde im Wagen.«
Erik Nilsson schaut hinter ihr her, als sie geht. Als er sich bückt, um die Blumen in der ins Erdreich gedrückten Vase auszutauschen, ist Mildred verschwunden.
LISA SETZT SICH ins Auto.
»Legt euch«, sagt sie zu den Hunden hinten.
Ich hätte mich auch hinlegen sollen, denkt sie. Statt durch das Haus zu wandern und auf Mildred zu warten. Damals. In der Nacht vor Mittsommer.
Es ist die Nacht vor Mittsommer. Mildred ist bereits tot. Das weiß Lisa nicht. Sie wandert umher. Trinkt Kaffee, obwohl sie weiß, dass sie das so spät lieber lassen sollte.
Lisa weiß, dass Mildred in Jukkasjärvi einen Mitternachtsgottesdienst abgehalten hat. Sie hat die ganze Zeit damit gerechnet, dass Mildred danach zu ihr kommen würde, aber jetzt wird es doch sehr spät. Vielleicht hat irgendwer sie angesprochen und aufgehalten. Oder sie ist nach Hause gefahren. Nach Hause zu ihrem Erik. Bei diesem Gedanken krampft sich Lisas Bauch zusammen.
Die Liebe ist wie ein Gewächs oder wie ein Tier. Sie lebt und entwickelt sich. Wird geboren, wächst, altert, stirbt. Treibt neue, seltsame Sprossen. Eben noch war die Liebe zu Mildred eine heiße, vibrierende Freude. Ihre Finger dachten an Mildreds Haut. Ihre Zunge dachte an ihre Brustwarzen. Jetzt ist die Liebe so groß wie vorher, so stark wie vorher. Aber in der Dunkelheit ist sie bleich und fordernd geworden. Sie verschlingt alles, was es in Lisa gibt. Die Liebe zu
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