Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
ich mich nicht trösten, dachte sie.
»Was ist aus ihnen geworden?«, fragte sie. »Ich habe doch meinen Verdacht auf Missbrauch gemeldet.«
»Daraus ist wohl nichts geworden«, sagte Anna-Maria. »Und dann ist die ganze Familie ja weggezogen.«
Rebecka dachte an die Mädchen. Sara und Lova. Sie räusperte sich und versuchte, an etwas anderes zu denken.
»So was ist doch teuer für die Gemeinde«, sagte Anna-Maria. »Untersuchungen kosten Geld. Sich um Kinder zu kümmern kostet verdammt viel Geld. Prozesse vor Gericht kosten Geld. Vom Standpunkt der Kinder aus wäre es besser, wenn dieser ganze Apparat dem Staat unterstellt wäre. Aber jetzt ist es für die Gemeinde die beste Lösung, wenn das Problem wegzieht. Verdammt, ich habe schon Kinder aus einer zweiundfünfzig Quadratmeter großen Kriegszone geholt. Und dann hört man, dass die Gemeinde für die Familie eine Wohnung in Örkelljunga gekauft hat.«
Sie verstummte. Merkte, dass sie vor sich hin geplappert hatte, einfach weil Rebecka Martinsson eine Grenze erreicht zu haben schien.
Als Rebecka weiter auf das Lokal zuging, sah Anna-Maria hinter ihr her. Eine plötzliche Sehnsucht nach ihren Kindern überkam sie. Robert war mit Gustav zu Hause. Sie wollte die Nase an Gustavs weichen Kopf schmiegen, seine starken kleinen Kinderarme um den Hals spüren.
Dann holte sie Luft und richtete sich auf. Die Sonne im weißgelben Herbstgras. Das Eichhörnchen, das noch immer auf der anderen Straßenseite im Baumwipfel spielte. Sie konnte wieder lächeln. Sie waren nie weit weg. Jetzt würde sie mit Erik Nilsson sprechen, dem Mann der Pastorin. Dann würde sie zu ihrer Familie nach Hause fahren.
Rebecka Martinsson ging hinunter zum Restaurant. Jetzt sprach der Wald hinter ihr. Komm her, sagte er. Geh tief hinein. Ich habe kein Ende.
Sie konnte sich diese Wanderung vorstellen.
Schmale Tannen aus gehämmertem Kupfer. Der Wind in den Wipfeln hoch oben klingt wie rauschendes Wasser. Zweige, die durch die Flechten schwarz gebrannt aussehen. Die Geräusche unter ihren Füßen: das Knistern von trockenem Farn, das Knirschen der vom Specht zerhackten Tannenzapfen. Ab und zu eine weiche Nadelmatte entlang einer Tierfährte. Und dann sind nur dünne Zweige zu hören, die unter den Füßen brechen.
Man geht und geht. Zuerst sind die Gedanken im Kopf wie ein verwirrtes Garnknäuel. Die Zweige kratzen über ihr Gesicht oder fangen ihre Haare ein. Ein Faden nach dem anderen wird aus dem Knäuel gezogen. Bleibt an den Bäumen hängen. Fliegt im Wind davon. Am Ende ist der Kopf leer. Und man geht weiter. Durch den Wald. Über dampfende, duftende Moore, in denen die Füße einsinken und wo der Körper juckt. Einen Hang hoch. Frischer Wind. Kriechende Zwergbirken, glühend auf dem Boden. Dann legt man sich hin. Und dann fällt der Schnee.
Plötzlich fiel ihr ihre Kindheit ein. Diese Sehnsucht, wie eine Indianerin durch die Unendlichkeit zu streifen. Der Bussard, der über ihrem Kopf segelte. In ihren Träumen hatte sie einen Rucksack auf dem Rücken und schlief unter freiem Himmel. Immer war Jussi dabei, der Hund der Großmutter. Manchmal war sie mit dem Kanu unterwegs.
Sie dachte daran, wie sie im Wald gestanden hatte. Und ihren Vater gefragt hatte: »Wenn ich dahin gehe, wohin komme ich dann?« Und der Vater antwortete. Immer neue Poesie, abhängig davon, wohin der Finger zeigte und wo sie sich befanden. Tjålme. Latteluokta. Über den Rautasälv. Durch Vistasvagge über den Drachenrücken.
Sie musste stehen bleiben. Glaubte fast, sie sehen zu können. Es fiel ihr schwer, sich an das wirkliche Gesicht ihres Vaters zu erinnern. Weil sie zu viele Fotos von ihm gesehen hat. Die haben ihre eigenen Erinnerungen verdrängt. Aber das Hemd erkennt sie. Baumwolle, aber nach dem vielen Waschen seidenglatt. Weiß, darüber schwarze und rote Striche, die ein Karomuster bilden. Das Messer im Gürtel. Blankes, dunkles Leder. Der schön gemusterte Schaft aus Knochen. Sie selbst, erst sieben, das weiß sie sicher. Sie trägt eine blaue, maschinengestrickte Mütze aus Synthetik, mit einem Muster aus weißen Schneeflocken, dazu solide Stiefel. Ein kleines Messer auch in ihrem Gürtel. Eher zur Zierde. Sie hat aber auch versucht, es zu benutzen. Wollte damit schnitzen. Figuren. Wie Michel aus Lönneberga. Aber es ist nicht scharf genug. Wenn sie ein Messer braucht, dann muss sie Papas leihen. Das ist besser, wenn sie Holz zerteilen oder Grillspieße anspitzen will oder eben doch schnitzen, auch
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