Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
einen neuen Ort. Kristin leitet den Kinderchor und die Sonntagsschule, ein bezauberndes Singvögelchen, das in allen Tonarten das Lob des neuen Ortes singt. Aber wenn die erste Verliebtheit, ja, so muss er das nennen, verflogen ist, dann setzt ihre Unzufriedenheit ein. Wirkliche und eingebildete Ungerechtigkeiten, die sie sammelt wie Glanzbilder in einem Album. Eine Phase mit Kopfschmerzen, Arztbesuchen und Vorwürfen gegen Stefan, der nicht einmal ihre Leiden ernst nimmt. Dann kriselt es endgültig zwischen ihr und einem Angestellten oder einem Gemeindemitglied. Und bald zieht sie im Ort auf Kriegszug aus. An Stefans letzter Stelle gab es einen richtigen Zirkus, die Gewerkschaft wurde eingeschaltet, und die Angestellte aus dem Pfarrbüro wollte ihren Nervenzusammenbruch als Berufskrankheit eingestuft sehen. Und Kristin, die sich zu Unrecht angeklagt fühlte. Und am Ende der Umzug, unvermeidlich. Beim ersten Mal hatten sie ein Kind, beim zweiten drei. Jetzt geht der älteste Junge in die Oberstufe, das ist eine sehr schwierige Zeit.
»Ich habe noch zwei von der Sorte«, sagt Mildred.
Als sie gegangen ist, hält Stefan die Briefe in der Hand.
Er ist ihr in die Falle gegangen wie ein Schneehuhn, das weiß er jetzt, und er weiß nicht einmal, ob er Mildred meint oder seine Frau.
REBECKA MARTINSSONS CHEF, Måns Wenngren, saß in seinem quietschenden Schreibtischsessel. Ihm war noch nie aufgefallen, dass der Sessel so nervtötend quietschte, wenn er höher oder tiefer gedreht wurde. Er dachte an Rebecka Martinsson. Dann dachte er nicht mehr an sie.
Er hatte eigentlich jede Menge zu tun. Musste Anrufe und Mails beantworten. Kunden und Mandanten auf dem Laufenden halten. Seine Referendare hatten Unterlagen und gelbe Klebezettel mit Mitteilungen auf den Sitz des Sessels gelegt, damit er sie auch ja sah. Aber jetzt war es nur noch eine Stunde bis zur Mittagspause, und da konnte er doch gleich alles ein wenig verschieben.
Er bezeichnete sich selbst oft als ruhelos. Er konnte seine Frau Madelene fast sagen hören: »Ja, das klingt ja auch besser als launisch und immer auf der Flucht vor dir selbst.« Aber ruhelos war er eben auch. Diese Unruhe hatte ihn schon in der Wiege erfasst. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass er im ersten Jahr die Nächte durchgeschrien hatte. »Als er laufen lernte, wurde er ein wenig ruhiger. Für kurze Zeit.«
Sein drei Jahre älterer Bruder hatte tausendmal erzählt, wie sie Weihnachtsbäume verkauft hatten. Ein Pächter der Familie hatte Måns und dessen Bruder einen Aushilfsjob beim Baumverkauf angeboten. Sie waren beide noch klein, Måns war gerade erst in die Schule gekommen. Aber rechnen konnte er schon, wie sein Bruder bezeugen konnte. Vor allem mit Geld.
Sie hatten also Weihnachtsbäume verkauft. Zwei kleine Händler von sieben und zehn. »Und Måns hat verdammt viel mehr verdient als wir anderen«, erzählte der Bruder. »Wir konnten ja nicht begreifen, wie das möglich war, wir kriegten doch alle nur vier Kronen pro Baum als Provision. Aber während wir anderen nur froren und darauf warteten, dass endlich Feierabend wäre, wuselte Måns hin und her und redete mit allen Onkeln und Tanten, die sich Bäume ansahen. Und wenn jemand eine Tanne zu hoch fand, bot er an, sie an Ort und Stelle zu kürzen, und da konnte niemand widerstehen, so ein kleiner Wicht mit einer Säge, die genauso lang war wie er selbst. Und jetzt kommt die Pointe! Von den abgesägten Resten entfernte er die Zweige, und aus den Zweigen band er große Tannenwedel, die er für einen Fünfer pro Stück verkaufte. Und dieser Fünfer verschwand dann in seiner Tasche. Der Pächter – wie, zum Teufel, hieß der doch noch gleich, Mårtensson vielleicht – war stocksauer. Aber was hätte er schon tun können?«
Hier unterbrach der Bruder seine Geschichte und hob seine Augenbrauen zu einer Miene, die alles darüber sagte, wie ohnmächtig der Pächter dem verschlagenen Sohn des Verpächters ausgeliefert gewesen war. »Businessman«, endete er dann. »Schon immer ein Businessman.«
Bis in seine mittleren Jahre hatte Måns sich gegen diese Kategorisierung gewehrt. »Jura ist nicht dasselbe wie Business«, hatte er gesagt.
»Natürlich ist es das«, widersprach dann sein Bruder. »Verdammt, natürlich ist es dasselbe.«
Der Bruder selbst war schon früh in seinem Erwachsenenleben ins Ausland gegangen, hatte Gott weiß was und noch allerlei anderes getrieben, war dann doch nach Schweden zurückgekehrt, hatte eine Ausbildung
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