Rebecka Martinsson 03 - Der schwarze Steg
farbenfroh bin.«
Sie hatte sich in letzter Zeit verändert. War an den Wochenenden zu Hause geblieben. War nicht so fröhlich gewesen wie früher. Ab und zu hatte sie eine Weile bei Ester gesessen.
»Ich weiß nicht«, hatte sie gesagt. »Ich habe einfach alles so satt. Habe es satt und bin niedergeschlagen.«
So hatte sie Ester gefallen. Niedergeschlagen.
Warum muss man immer froh sein, hätte sie Inna gern gefragt.
Diese Menschen. Froh und leichtlebig und viele Bekannte. Das war das Allerwichtigste.
Aber dennoch. Inna stellte diese Anforderung nur an sich. Nicht an Ester.
In dieser Hinsicht war Inna wie Mutter.
Sie haben mich beide sein lassen, wie ich bin, dachte Ester. Mutter. Sie hat dem Lehrer in der Schule versprochen, mir zu sagen, dass ich mir größere Mühe geben soll. Um Rechnen und Schreiben zu lernen. »Und sie ist doch so still«, sagte der Lehrer.
»Hat keine Freunde.«
Als ob das eine Krankheit wäre.
Aber Mutter ließ mich in Ruhe. Ließ mich zeichnen. Fragte nie, ob ich eine Freundin hätte, die ich mit nach Hause bringen wolle. Es war natürlich, allein zu sein.
Auf der Kunstschule war das anders. Sie musste so tun, als wäre sie nicht allein. Damit die anderen nicht verlegen oder schuldbewusst zu sein brauchten.
Ester fängt an Idun Lovéns Kunstschule in Stockholm an. Gunilla Petrini hat Bekannte mit einer Wohnung in der Jungfrugata auf Östermalm, die renoviert werden soll. Diese Bekannten verbringen deshalb den Winter in der Bretagne. Die kleine Ester kann ein Zimmer benutzen, das ist kein Problem. Die Handwerker kommen frühmorgens, und wenn Ester aus der Schule nach Hause kommt, haben sie schon Feierabend.
Ester ist an Einsamkeit gewöhnt. Auf der Schule hat sie keine engen Freunde. Ihr ganzes fünfzehn Jahre langes Leben hat sie am Rand verlebt, hat an Wandertagen allein dagesessen und auf ihrem Brot herumgekaut. Sie hat schon früh aufgehört zu hoffen, dass sich im Bus jemand neben sie setzen würde.
Also ist es sicher ihr Fehler. Sie ist es nicht gewöhnt, Kontakt aufzunehmen. Und sie ist davon überzeugt, dass sie abgewiesen werden würde, wenn sie es versuchte. Ester sitzt in den Pausen allein. Sie fängt keine Gespräche an. Die anderen nehmen den Altersunterschied wahr und entschuldigen sich damit, dass Ester sicher Freunde in ihrem eigenen Alter hat, mit denen sie ihre Freizeit verbringt. Ester wacht allein auf. Zieht sich an und frühstückt allein. Im Gehen begegnet sie manchmal den blau gekleideten Männern, die die Wohnung renovieren. Sie nicken oder sagen Hallo, aber sie sind viele Meilen von ihr entfernt.
Es macht ihr nicht sehr zu schaffen, dass sie am Rand steht. Sie folgt dem Unterricht und lernt von den älteren Kurskameraden. Wenn die anderen Kaffee trinken gehen, bleibt sie oft im Atelier und wandert umher und schaut. Versucht festzustellen, warum die Linien der einen so leicht wirken und wie der andere die Farben bindet.
Wenn sie keinen Unterricht in Modellmalerei hat, wandert sie. Und dann ist es leicht, in Stockholm allein zu sein. Niemand kann ihr ansehen, dass sie außen steht. Es ist nicht wie in Kiruna, wo alle wissen, wer sie ist. Hier sind viele Menschen auf der Wanderschaft zu allerlei Zielen. Es ist eine Befreiung, in der Menge zu sein.
Auf Östermalm gibt es alte Damen, die Hüte tragen! Sie sind noch witziger als Hunde. Samstagsvormittags folgt Ester den Damen mit ihrem Skizzenblock. Sie zeichnet sie mit schnellen Strichen, die gebrechlichen Körper in dicken Nylonstrümpfen und feinen Mänteln. Wenn es dunkel wird, verschwinden sie von den Straßen wie ängstliche Kaninchen.
Ester geht nach Hause, als Abendessen gibt es Brot und Buttermilch. Danach geht sie wieder los. Die Herbstabende sind noch warm und schwarz wie Samt. Sie geht über die Brücken der Stadt.
Eines Abends steht sie auf Västerbron und schaut auf einen Parkplatz für Wohnwagen hinab. In einer Woche wird sie zurückkommen und eine Familie sehen, die dort wohnt. Der Vater sitzt auf einem Campingstuhl und raucht. Zwischen den Wohnwagen haben die Familien Wäscheleinen gespannt. Die Kinder spielen Fußball. Sie rufen einander Dinge in einer fremden Sprache zu.
Ester ertappt sich dabei, dass sie sich nach ihnen sehnt. Nach dieser Familie da unten, die sie nicht einmal kennt. Sie könnte auf ihre Kinder aufpassen. Ihre Wäsche zusammenlegen. Mit ihnen durch Europa fahren.
Sie ruft zu Hause an, aber das Gespräch stockt. Antte fragt, wie es ihr in Stockholm gefällt. Sie
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