Rebecka Martinsson 05 - Denn die Gier wird euch verderben
sie lange. Krister streichelte Marcus’ Arm. Marcus hatte sich über Vera gelegt. Er flüsterte der Hündin etwas ins Ohr. Die Frage hatte er vergessen.
»Warum hattest du keine Schuhe an? Und keine Jacke?«
»Man kann aus meinem Fenster springen. Dann landet man auf dem Dach über der Hintertür. Und dann kann man auf den Weg runterklettern.«
»Aber warum hattest du keine Schuhe an?«
»Die Schuhe stehen in der Diele.«
»Warum bist du aus dem Fenster gesprungen? Warum bist du nicht durch die Tür gegangen?«
Der Junge schwieg wieder.
Am Ende schüttelte er nur kurz den Kopf.
Das reicht jetzt, dachte Krister.
Konnte er sich nicht erinnern? In Anna-Marias Kopf wimmelte es von Fragen. Alle wollten auf einmal hinaus. Warum bist du aufgewacht? Was hast du gesehen? Hast du etwas gehört? Würdest du irgendwen wiedererkennen …?
Er saß da und streichelte den Hund. So unbeteiligt. Anna-Maria wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Kannst du dich an etwas erinnern?«, versuchte sie es. »An irgendetwas? Weißt du noch, wann du am Abend schlafen gegangen bist?«
»Ich muss um halb acht ins Bett, sagt Oma. Jeden Abend. Egal, was im Fernsehen kommt. Ich muss immer ganz früh ins Bett.«
Ich muss jetzt aufhören, dachte Anna-Maria. Ich dränge ihn so. Bald erfindet er dann etwas. Das haben sie im Kurs die ganze Zeit gesagt. Dass Kinder das tun wollen, was von ihnen erwartet wird. Sie würden alles sagen, nur damit man zufrieden ist.
»Ich wache auf, wenn jemand kommt«, sagte Marcus zu Krister. »Als du mit Tintin gekommen bist, bin ich fast sofort aufgewacht. Meinst du, ich bin schlafgewandelt?«
Aber eben ist ihm noch eingefallen, dass er aus dem Fenster gesprungen ist, dachte Anna-Maria. Das hier geht so nicht. Ich werde noch alles verpfuschen. Wir brauchen einen Profi.
»Das Gespräch mit Marcus Uusitalo wird beendet«, sagte sie und schaltete die Videokamera aus.
»Wir rufen deine Mama an«, sagte sie zu Marcus. »Aber die wohnt in Stockholm. Das ist weit weg. Gibt es Erwachsene, die hier in der Nähe wohnen, die du gut kennst und bei denen du so lange sein möchtest?«
»Meine Mama will nie mit mir reden. Kann ich nicht zu meiner Oma nach Hause fahren?«
Anna-Maria und Krister sahen sich an.
»Aber«, setzte sie an und unterbrach sich gleich wieder, konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
Krister legte den Arm um Marcus.
»Hör mal, Kumpel«, sagte er. »Wollen du und ich und Vera und Jasko, das ist auch Rebeckas Hund … Jasko … aber weißt du, wie wir ihn nennen? Rotzwelpe! Wollen wir alle zusammen, auch meine Hunde, zu mir fahren und frühstücken? Hast du nicht einen Wahnsinnshunger?«
M ARCUS RANNTE MIT DEN H UNDEN auf den Hofplatz hinaus. Krister Eriksson ging hinterher. In der Tür kam ihm Rebecka entgegen. Fast wären sie zusammengestoßen. Rebecka trat einen Schritt zurück und lächelte. Er musste sich zusammenreißen, um sie nicht anzufassen. Die Hunde sprangen an ihr hoch, um sie zu begrüßen.
»Ich habe mit seiner Mutter gesprochen«, sagte Rebecka.
»Ja?«
Der Wind stahl sich die Vortreppe hoch. Hob einige Strähnen ihrer Haare. Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie der graue Himmel und das sandfarbene trockene Herbstgras. Er musste Luft holen. Sein Herz schlug schneller.
Ganz ruhig, ermahnte er sich. Ich darf ja hier stehen und sie ansehen. Wir werden gerade Freunde. Damit werde ich mich zufriedengeben.
Rebecka pustete kräftig aus dem Mund aus. Ein deutliches Zeichen, dass dieses Telefonat kein Vergnügen gewesen war.
»Was soll ich sagen? Sie war entsetzt, weil das passiert ist, aber sie hat erklärt, dass Marcus auf keinen Fall zu ihr kommen kann. Kannst du das begreifen? Sie hat gesagt, sie und ihr Freund hätten Stress, dass er sie verlassen würde, wenn sie sich um Marcus kümmern müsste. Dass ihr Typ im Moment kaum seine eigenen zwei Kinder ertragen kann. Dass er ein egoistischer Arsch ist. Dass er große Probleme bei der Arbeit hat. Dass man ihn deshalb doch verstehen müsse. Dass ich sie verstehen müsste. Dass sie an sich selbst immer zuletzt dächte, darum ginge es nicht. Bla bla bla.«
Sie verzog das Gesicht. Kniff Mund und Augen zusammen. Wandte den Blick ab.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.
»Um mich geht es hier nicht«, sagte sie.
Jetzt, dachte er, und seine Hand hob sich und streichelte sie. Erst ihre Wange und ihr Ohr. Dann ihre Haare.
Sie wich nicht aus. Schien mit den Tränen zu ringen. Dann räusperte sie sich.
»Ist Anna-Maria noch
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