Rebellen der Ewigkeit
schnupperte.
Das war eindeutig Kaffeeduft.
Erschreckt fuhr sie hoch und warf einen Blick auf den Wecker neben ihrem Bett. Hatte sie verschlafen? Es war bereits hell in ihrem Zimmer, aber das war um diese Jahreszeit nicht außergewöhnlich, denn sie zog abends die Vorhänge nur selten zu.
Es war wenige Minuten vor sieben Uhr. Mit einem erleichterten Seufzen ließ sie sich auf ihr Kissen zurückfallen. Es wäre ihr schrecklich unangenehm gewesen, gleich am ersten Tag zu spät zu Karelia zu kommen.
Sie lauschte nach den Geräuschen aus der Küche. Ihre Mutter war früh aufgestanden, so als wüsste sie, dass es ein besonderer Tag für ihre Tochter sei. Normalerweise schlief ihre Mutter fast bis zur Mittagszeit, weil sie nachts so häufig von Schmerzen geplagt wurde und erst in den Morgenstunden etwas Ruhe fand oder einfach von der Erschöpfung übermannt wurde.
Vielleicht hatte sie in der letzten Nacht ja gut geschlafen, dachte Valerie, während sie sich anzog. Eine Viertelstunde später betrat sie die Küche, wo ihre Mutter vor einem Toast und einer Tasse Kaffee saß.
»Guten Morgen, Mama.« Valerie küsste sie auf die Stirn und setzte sich an den zweiten, ebenfalls eingedeckten Platz am Frühstückstisch. Ihre Mutter schenkte ihr Kaffee aus der Warmhaltekanne ein und steckte zwei Scheiben Weißbrot für sie in den Toaster.
Sie schwiegen, bis Valerie den ersten Toast mit Marmelade verzehrt hatte. Das war nichts Ungewöhnliches. Ihre Mutter war nie eine Frau der vielen Worte gewesen, eine Eigenschaft, die Valerie von ihr geerbt hatte. Das Schweigen war nicht unangenehm, sondern etwas, das sie miteinander teilten wie einen gemeinsamen Freund.
»Wo warst du gestern?«, fragte Valerie. Als sie nach Hause gekommen war, war ihre Mutter nicht da gewesen und erst zurückgekehrt, als sie schon im Bett gelegen hatte.
»Bei Tante Hannah. Wir haben Karten gespielt.«
Tante Hannah war eine alte Freundin ihrer Mutter, die sie in unregelmäßigen Abständen abholte und mit in ihre Wohnung nahm. Dort saßen sie mit weiteren Freundinnen zusammen und spielten Rommé, häufig bis in die frühen Morgenstunden. Valerie war froh darüber, denn so kam ihre Mutter wenigstens manchmal etwas unter die Leute. Die einzigen Menschen, die sie sonst sah, waren die Ärzte und ihre Praxishelferinnen.
»Und du?«, fragte ihre Mutter. »Wie viele Jahre hast du nun verkauft?«
»Zehn«, antwortete Valerie.
»Zehn Jahre deines Lebens?« Obwohl sie in den letzten Wochen oft über Valeries Entscheidung gesprochen hatten, war ihre Mutter entsetzt.
»Und wenn schon. Vielleicht werde ich statt hundert dann nur neunzig Jahre alt«, versuchte Valerie zu scherzen, aber es wollte ihr nicht recht gelingen.
»Ich finde das nicht witzig.«
Valerie schlug die Augen nieder. »Ist es auch nicht. Tut mir leid.«
Ihre Mutter streckte eine Hand aus und legte sie auf Valeries Unterarm. Die vielen winzigen Falten, die ihre Finger überzogen, ließen die Haut wie einen zu groß geratenen Handschuh aussehen.
»Du könntest es noch rückgängig machen«, sagte sie.
Valerie nickte. »Ich weiß. Aber woher sollen wir sonst das Geld für deine Behandlung bekommen? Außerdem sind zehn Jahre doch auch nicht so viel.«
»Das sagst du jetzt«, widersprach ihre Mutter. »Es ist das Privileg der jungen Leute, zu glauben, sie würden ewig leben. Wenn du mein Alter erreichst, dann sieht das schon ganz anders aus.«
»Was habe ich davon, wenn ich dein Alter erreiche und du bist schon viele Jahre tot?« Valerie spürte den Kloß in ihrem Hals. Sie war kein Mensch, der schnell weinte, aber wenn es um den drohenden Tod ihrer Mutter ging, konnte sie die Tränen nur mit Mühe zurückhalten.
»Wir müssen alle abtreten, wenn unsere Zeit gekommen ist. Meine ist nun einmal etwas früher abgelaufen. Deshalb geht die Welt nicht unter.«
»Für mich schon!«, rief Valerie. In ihre Trauer mischte sich Wut. Wie konnte ihre Mutter die tödliche Krankheit nur so einfach akzeptieren? Wollte sie nicht leben, wie alle anderen auch? Stattdessen fügte sie sich in ihr Schicksal, wie sie sich ihr ganzes Leben in die Dinge gefügt hatte. Valerie war sich darüber im Klaren, dass sie diese Eigenschaft von ihrer Mutter geerbt hatte. Deshalb war der Zorn über sie mindestens in gleichem Maß auch der Zorn über sich selbst.
Ihre Mutter seufzte. »Ich habe schon gemerkt, dass ich es dir nicht ausreden kann. Aber vielleicht denkst du einfach noch mal darüber nach. Es gibt immer einen zweiten
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