Rebellen: Roman (German Edition)
den sie gemalt hatte, und sagte: »Ich bin viel zu fett.« Alles zerstob. Ich muss Julia einweisen lassen, sie wird zwangsernährt werden oder sterben.
Nun also sitzt mein Mann im Wartezimmer, das Gesicht zerknautscht, Stirn in Falten, und klopft mit dem Fuß einen unbestimmten Rhythmus. Wie immer trägt er einen der blauen Anzüge, in denen er nun schon so lange lebt.
Ich küsse ihn auf die Wange und freue mich, dass er da ist. Und ich freue mich, dass er sich freut. Sonja bringt ihm einen doppelten Espresso, mir einen grünen Tee. Ich rühre in der Tasse, obwohl ich niemals Zucker nehme. Dann warte ich. Es ist schön zu sehen, wie sein Gesicht sich glättet, der Fuß zur Ruhe kommt und seine Augen lebendig werden.
Doch er redet nicht. Was immer ihn bedrückt, er erzählt es mir nicht. Für einen Augenblick denke ich, er hätte etwas mitgekriegt – von Joaquin, und ich wappne mich. Aber das ist es nicht. Er redet unwichtiges Zeug. Dr. Esser will, dass er Präsident im rotarischen Klub wird. Er weiß, dass seine Rotarier mich kreuzweise können. Aber ich höre zu. Dann denke ich, dass er mir eine kleine außereheliche Affäre gestehen will. Aber das tut er auch nicht. Er redet, und es geht offensichtlich nur darum, dass er bei mir ist. Er will sein Geheimnis wahren. Falls es überhaupt eines gibt.
Nach zehn Minuten steht er auf und umarmt mich. Dann geht er. Auf mich wartet die nächste Patientin.
26. Paul
Die Fabrikationsräume der Firma Heppeler befanden sich damals noch in einem Ensemble roter Backsteingebäude im Norden der Stadt, geschützt von einer mehr als mannshohen Steinmauer. Pauls morgendlicher Weg zur Arbeit unterschied sich völlig von seinem früheren Schulweg, er ging zu Fuß zum Komturplatz und stieg dort in den Bus, was ihn freute, denn es war ein Indiz dafür, dass der Umbruch in seinem Leben tatsächlich stattgefunden hatte.
Die Lehrwerkstatt war in dem zweigeschossigen Seitenflügel der Industrieanlage untergebracht. Zwanzig Werkbänke standen im vorderen Teil, dahinter vier Drehbänke, einige Bohrmaschinen und zwei neue Schleifmaschinen. Es gab einen großen Umkleideraum mit einem Spind für jeden Lehrling, dahinter eine gekachelte Dusche. Es sah ein bisschen so aus, wie Paul sich einen Sportverein vorstellte. Er fand es beruhigend, dass seine neuen Kollegen nicht älter waren als er. Er würde nicht mehr der Jüngste sein.
Es würde nicht so sein wie im Heim.
Am ersten Arbeitstag erfuhr er den Plan für seine Lehrzeit: Das gesamte erste Lehrjahr würde er in der Lehrwerkstatt verbringen. Dort würde er die Grundlagen des Feinmechanikers lernen: feilen, fräsen, drehen, bohren, senken. Im zweiten und dritten Lehrjahr wanderten die Lehrlinge dann von Abteilung zu Abteilung, immer einem Meister zugeordnet.
Der Meister der Lehrwerkstatt hieß Eislinger. Es war ein mittelgroßer Mann, dünn, etwa fünfzig Jahre alt, leicht vornübergebeugt, nur an den Seiten seines ansonsten kahlen Schädels waren zwei Streifen grauer Haare zu sehen, womit Eislinger Paul an ein schlaues Eichhörnchen erinnerte. Eislinger trug stets einen grauen Meisterkittel mit Firmenemblem, darunter immer ein weißes Hemd mit einer braunen Strickkrawatte. Das Besondere an ihm aber war, dass an seiner rechten Hand zwei Fingerkuppen fehlten: an Daumen und Zeigefinger.
Eislingers Büro, ein mit großen Glasscheiben abgegrenzter Quader, stand mitten in der Werkstatt. Von seinem Schreibtisch aus konnte er jeden Winkel der Lehrwerkstatt beobachten. Am zweiten Schreibtisch saß Anita Böhmer, die Eislingers Schreibkram auf einer nagelneuen IBM -Kugelkopfschreibmaschine erledigte, die Urlaubskartei führte, morgens die Werkzeuge an die Lehrlinge ausgab und abends wieder einsammelte. Frau Böhmer hatte, niemand konnte es übersehen, eine enorme Oberweite, die sie unter hochgeschlossenen Pullovern und Wollwesten und mit leicht vorgebeugten Schultern vergeblich zu verdecken suchte. Strunz, ein Lehrling aus dem zweiten Lehrjahr, setzte die Neuen von ihrem Spitznamen in Kenntnis, der allen sofort einleuchtete, und so wurde Frau Böhmer auch von dem neusten Jahrgang nur »Miss Titty« genannt.
»Disziplin«, sagte Eislinger am ersten Tag, nachdem er alle vierzehn neuen Lehrlinge um sich herum versammelt hatte, »Disziplin ist das Wichtigste, was ihr bei mir lernen werdet. Einen Metallberuf kann man nicht ausüben ohne Disziplin. Man kann nicht arbeiten ohne Disziplin. Man kann nicht leben ohne Disziplin. Ihr werdet bei mir alles
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