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Rebellen: Roman (German Edition)

Rebellen: Roman (German Edition)

Titel: Rebellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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in die Versuchsabteilung, Strunz in den Werkzeugbau. Sie verdienten jetzt richtiges Geld, einen Stundenlohn von 4,97 Mark.
    Und das Beste war: Er konnte aus dem Heim ausziehen. Alles verlief erstaunlich unspektakulär. Alexander lieh sich den Mercedes seines Vaters. Alles, was Paul besaß, Kleider, Bücher und die Platten, passte in den Kofferraum. Er mietete ein Zimmer in der Hildastraße, ein langer Schlauch im Hinterhof, früher wohl eine Werkstatt. In den vorderen Bereich stellte er einen Schreibtisch, den er auf dem Sperrmüll gefunden hatte, einen Schrank und die erste wirkliche Investition, ein breites Bett. Im hinteren Teil brachte er seineSpiegel, Lichtquellen, Werkzeuge und seine Modelle unter. Toilette und Dusche waren im Haupthaus. Warmes Wasser floss nur, wenn man einen Automaten zuvor mit Münzen fütterte. Nebenan war eine Bäckerei, die jeden Morgen um vier Uhr die Rührmaschine anwarf, und die kleinen braunen Kakerlaken machten hin und wieder Ausflüge in Pauls Wohnung. Aber was machte das? In Webers Weinstube, die bis um drei Uhr Wein und Bier ausschenkte, konnte er nun in nur zwei Minuten sein. Beste Lage, deine Wohnung, sagte Alexander.
    Die »O« überreichte ihm zum Abschied ein Sparbuch mit seinem angesparten Lehrlingslohn: 2.450,67 Mark.
    Er kaufte sich einen Dual-Plattenspieler.
    Endlich.
    Alexander war lieber in der geräumigen Wohnung Pauls als in seiner Bude mit der misstrauischen Vermieterin. Er blieb oft auch über Nacht, und nach ein paar Wochen deponierte er einen Schlafsack in Pauls Werkstatt. Aber auch die anderen erschienen oft und gingen manchmal nach einem Abend in Webers Weinstube direkt von der Hildastraße zur Arbeit.
    Nach zwei Wochen fehlte der Schlüssel zur Haustür, es war nicht mehr festzustellen, wer ihn verloren hatte, und Paul verkündete, dass der Ersatzschlüssel zur Haustür ab sofort immer draußen hinter der Regenrinne liegen würde, und jeder müsse ihn dahin auch wieder zurücklegen. Die Tür zu seiner Wohnung sei immer offen.

50. Toni
    Der Anfang bestimmt die Struktur. Das gilt für die Liebe. Für jedes Begehren. Für jede Geschichte. Und natürlich weiß ich, wie es für mich anfing mit Paul und Alexander.
    Damals lag das Institut für Psychologie noch mitten in der Stadt, direkt neben dem Hauptgebäude der Universität, es hatte ehrwürdige getäfelte Vorlesungssäle. Der Holzfußboden knackte, wenn man über die Flure ging. Aber Freiburg bot gleich die erste große Enttäuschung: Das Studium war eine Farce. Es wurde noch Grafologie gelehrt. Wir lernten den Rorschachtest. Wir lernten den Farbpyramidentest. Aus der Kombination der Farben, die eine Testperson wählte, wurde auf dessen Charakter geschlossen. Mir kam es vor, als würde ich im Kaffeesatzlesen ausgebildet. Es war mir zutiefst zuwider.
    Als ich einen vorsichtigen Einwand wagte, musste ich vortreten. »Fräulein Dreyer, Sie stören mein Seminar.«
    Es gab einen Lehrstuhl für Parapsychologie, besetzt mit einem alten Nazi, der im Dritten Reich Wünschelrutenforschung betrieben hatte und nun in seinen Vorlesungen behauptete, er könne mit seiner Frau telepathisch kommunizieren. Inzwischen war er ein freundlicher alter Herr, beliebt bei den Prüflingen.
    Im Statistikseminar fror ich. Außerdem war ich nicht recht bei der Sache; Statistik hat mich nicht interessiert, aber esfiel mir auch nicht schwer. Mehr beschäftigte mich, dass am Nachmittag ein Teach-in im Audimax stattfand, zu dem ich unbedingt gehen wollte. Es hieß: Ein revolutionärer Arbeiter würde dort reden.
    Ich hatte Dutzende von Schulungen in der Basisgruppe Psychologie hinter mir, hatte das »Kommunistische Manifest« gelesen, »Lohnarbeit und Kapital«, Lenins »Was tun?«, Schriften von Trotzki und Mao Tse-tung. An der Uni konkurrierten Dutzende Gruppen um die richtige revolutionäre Linie miteinander, vor der Mensa musste ich jeden Mittag durch ein Spalier von Flugblattverteilern marschieren, bevor ich etwas zu essen bekam. Alle droschen aufeinander ein. Mir kamen sie vor wie religiöse Eiferer, die von sich behaupteten, ihr Gott sei der einzig wahre und der Gott aller anderen Religionen nur eine Erfindung. Umstritten war, wer die richtige proletarische Linie verfolgte, einig waren sie sich alle, dass die revolutionäre Arbeiterklasse irgendwie Veränderung und bessere Zukunft bedeutete, aber noch keiner meiner Kommilitonen hatte je ein solches Wunderwesen aus der revolutionären Arbeiterklasse gesehen.
    Dann sah ich Paul.
    Die Tür

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