Rebellen: Roman (German Edition)
des Instituts fiel schwer hinter mir ins Schloss. Ich hielt den Arm vor die Augen, nach den dunklen Institutsfluren blendete mich gleißendes Sommerlicht. Als ich meinen Arm wieder wegzog, sah ich Alexander auf der anderen Seite der Bertoldstraße stehen, Alexander aus der Basisgruppe Soziologie, den ich flüchtig kannte und von dem man munkelte, dass er mit einem jener sagenumwobenen Geschöpfe befreundet sei, die ständig in unseren Köpfen herumfuhrwerkten, einem richtigen Proletarier, einem revolutionären Proletarier.
Nun also stand da so ein Kerl neben Alexander auf der anderen Straßenseite, jemand, der eher unmodern wirkte, dieHaare sauber geschnitten, nicht so lang, wie man sie eigentlich trug damals. Er strahlte neben dem schlaksigen Alexander eine erstaunliche Ruhe und Sicherheit sowie eine gehörige Portion virilen Charmes aus. Und wie ein richtiger Politkommissar trug er trotz der Hitze eine schwarze Lederjacke. Paul war die damals unschlagbare Mischung aus Alain Delon und Ernst Thälmann.
Was soll ich sagen, ich war interessiert.
Also überquerte ich die Straße und begrüßte Alexander. Er war einer der Wortführer bei den Soziologen. Sehr klug. Sehr wortgewandt. Schulterlange Haare, runde Nickelbrille, er hatte eine verdammte Ähnlichkeit mit John Lennon.
»Geht ihr auch ins Audimax?«
Beide nickten. Sie nahmen mich in die Mitte.
Alexander erzählte mir später, dass er und zwei der Obergenossen eine Rede für Paul geschrieben hatten und diese den ganzen Morgen lang mit ihm eingeübt hatten. Es ging um viel. Der Auftritt eines richtigen Arbeiters würde den Führungsanspruch der größten revolutionären Gruppe, des Bundes Kommunistischer Arbeiter, an der Uni durchsetzen. Paul sollte aber auch intellektuell den Führungsanspruch der Arbeiterklasse durch eine radikale Kritik der bürgerlichen Ökonomie unterstreichen.
Ich habe diese Rede später gelesen: Es ging gegen Schumpeter und Keynes, gegen Ricardo und vor allem gegen Adam Smith. Eine kluge Rede, die sich entsprechend den griechischen Vorbildern von Absatz zu Absatz steigerte und furios mit der Notwendigkeit der Revolution endete. Klug, aber nicht einzigartig, eine Rede, wie ich sie an der Uni schon oft gehört hatte.
Das Audimax war überfüllt, die Kommilitonen saßen auf den Stufen und auf dem Platz vor dem Rednerpult. Alle Gruppen verteilten ihre Flugblätter. Er herrschte eine gespannte Aufgeregtheit. Die revolutionäre Theorie versuchteden Praxisbeweis. Es gab das revolutionäre Subjekt wirklich, heute, jetzt gleich, würde es zu uns sprechen.
Irgendjemand vom AS tA sagte zuerst etwas, und dann ging Paul ans Pult. Er ging gebeugt, irgendwie klein, und drückte seine Daumen so fest in die Blätter seiner Rede, dass das Papier völlig verknautscht aussah. Er war nervös. Er hatte Angst. Das war eindeutig. Und ich dachte, dass dieser Auftritt schiefgehen würde. Er tat mir leid.
Alexander saß neben mir, angespannt, unsicher.
Paul stand am Pult, sah in sein Manuskript, immer noch gebeugt, weit weg und räusperte sich. Die Stille, die nun einsetzte, war nicht mehr erwartungsvoll. Ich spürte, wie sich plötzlich Mitleid mit dem Jungen am Rednerpult breitmachte.
»Studenten, Studentinnen«, sagte Paul leise.
Das war schwach. Richtig schwach. Alexander hielt neben mir die Luft an.
Paul hob den Kopf. Dann nahm er die Rede und legte sie beiseite.
»Ach du liebe Scheiße«, sagte Alexander leise und griff nach meiner Hand.
Paul stand vorne und schwieg. Dreitausend Studenten starrten ihn.
»Ich habe gehört, dass man euch erzählt«, sagte er dann ganz ruhig und klar, »es gebe drei Produktionsfaktoren, und das seien: Arbeit, Kapital und Boden.«
Pause.
»Fangen wir mit dem Boden an. Er gehört zu unserem Leben wie die Luft. Man könnte ebenso gut Luft als Produktionsfaktor benennen. Oder Wasser. Oder Bratkartoffeln.«
Erste Lacher.
»Er macht die besten Bratkartoffeln der Welt«, flüsterte Alexander mir ins Ohr.
»Ich komme direkt aus dem Betrieb zu euch«, fuhr Paul fort. »Bis vor einer Stunde habe ich an einer Drehmaschine Präzisionsteile für den medizinischen Apparatebau hergestellt. Diese Maschine ist durch Arbeit entstanden. In ihr steckt die Arbeit der Kollegen der Firma Index. Der Stahl, den ich verarbeitet habe, stammt aus der Hand der Arbeiter von Thyssen. Arbeit, nicht Kapital, hat die Werkzeuge und das Material hergestellt.«
»Und wer hat’s bezahlt?«, rief ein Schnösel vom RCDS dazwischen, den keiner hören
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