Rebellen: Roman (German Edition)
hantierte. Wir wussten nicht, dass es die Nerven angreift, und wir wussten auch nicht, dass es Nierenkrebs auslösen kann. Hätten wir es damals gewusst – ich hätte dafür gesorgt, dass Paul sofort die Firma verlässt. Vielleicht würde er heute noch leben.
An diesem Abend jedenfalls war ich sauer, dass er mit Strunz an diesem Unterschriftenblatt arbeitete, ich ging wieder, unbefriedigt und schlecht gelaunt.
Wagner lehnte die Versammlung ab, und Paul und Strunz riefen die Kollegen zu einer Versammlung in den Tennenbacher Hof. Es ging wohl hoch her, die Arbeiter waren sauer. Einer von ihnen rief, man solle sofort streiken – und das machten sie dann auch.
Der KBW verteilte am nächsten Tag Flugblätter, in denener den wilden Streik in den beiden Abteilungen von Heppeler als Zeichen der herannahenden Weltrevolution deutete. Wagner und die Gewerkschaft distanzierten sich von der Aktion. Strunz und Paul waren skeptisch, ob die Kollegen wirklich durchhalten würden, aber als es losging, organisierten sie alles. Es gab eine Mahnwache vor dem Werkstor, die Arbeiterfrauen brachten Kaffee und Kuchen. Die Stimmung war gut. Eine Woche lang.
Dann kamen die ersten drei fristlosen Kündigungen: Störung des Betriebsfriedens. Einer der drei Arbeiter hatte vier Kinder. Er war völlig verzweifelt. Zwei Tage später ging er an seinen Arbeitsplatz, Heppeler wandelte die Kündigung in eine Abmahnung um. Die anderen beiden Gekündigten blieben vor dem Werkstor, aber die Stimmung war dahin. Es wurde ernst.
Es folgten zwei weitere Kündigungen. Fristlos. Beide Arbeiter gingen wieder zur Arbeit, und auch ihre Entlassungen wurden in Abmahnungen umgewandelt. Dann schrieb Heppeler den Streikenden, dass sie die nächsten Kündigungen nicht mehr zurücknehmen würden. Danach gingen zwei wieder ins Werk. Am nächsten Tag noch einer. Es folgten fünf fristlose Kündigungen.
Bei der nächsten Versammlung war ich dabei. Paul hatte am Vorabend wieder das Clausewitz-Buch in der Hand. »Der Rückzug ist das Schwierigste«, sagte er.
Ernst saßen dreißig erwachsene Männer in dem Saal. Gestandene Männer, es ging um ihre Existenz. Jeder wusste es. Strunz fragte sie, wer weiterstreiken würde. Vierzehn Hände hoben sich. Zu wenige.
Paul bot an, über eine Rückkehr der Streikenden zu verhandeln. Das Angebot wurde erleichtert angenommen. Aber alle schlichen mit hängenden Schultern aus dem Saal.
Strunz und Paul gingen am nächsten Tag ins Werk. Sie saßen Heppeler junior, Schmidt und Wagner gegenüber. DieBedingungen der Firma waren klar: 1. Die Arbeiter kehren sofort an ihren Arbeitsplatz zurück. 2. Heppeler nimmt alle Kündigungen zurück. 3. Alle akzeptieren eine Abmahnung. 4. Der Leistungslohn wird von allen schriftlich bestätigt. 5. Paul und Strunz werden wegen Störung des Betriebsfriedens fristlos entlassen, eine Abfindung wird nicht gezahlt.
Am Abend fand erneut eine Versammlung statt. Am nächsten Morgen marschierten Pauls Kollegen wieder durchs Werkstor. Als Paul und Strunz erschienen, um ihre Sachen abzuholen, erhoben sich alle, einige applaudierten und klopften mit einem Werkzeug auf Metall.
Zwei Tage später wurden beide aus der IG Metall ausgeschlossen. Unvereinbarkeitsbeschluss, wer Mitglied in einer kommunistischen Organisation sei, könne nicht Mitglied in einer Gewerkschaft des DGB sein.
Der Obergenosse Ernst bestellte Paul zum Rapport. Er habe den Rückzug der Arbeiter eingeleitet. »Du hast die Arbeiterklasse vom Kampf abgehalten«, warf er ihm vor.
Beides, der Gewerkschaftsausschluss und die scharfe Kritik innerhalb des KBW , setzten Paul mehr zu als der Verlust des Arbeitsplatzes. Mein proletarischer Held wurde klein und immer kleiner, und ich mühte mich, ihn aufzumuntern, aber es gelang mir nicht. Er versteckte sich in der Hildastraße und bastelte unentwegt an seinen merkwürdigen Lichtmaschinen herum.
Er litt, als habe ihm jemand das Herz herausgerissen.
Und ich konnte ihm nicht helfen.
Er begann wieder von vorne. Studierte Marx und Lenin. Tagelang. Nächtelang.
»Es ist unglaublich, was ich überlesen habe«, sagte er zu mir und zog einen der braunen Lenin-Bände aus dem Regal.»Hör mal zu, was er nach der Revolution geschrieben hat. ›Einführung des Stücklohns, Anwendung von vielem, was an Wissenschaftlichem und Fortschrittlichem im Taylorsystem enthalten ist‹. Komisch liest sich das, wenn man gerade gefeuert wurde, weil man gegen die Einführung des Stücklohns gekämpft hat.«
Ich küsste ihn.
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