Rebellen: Roman (German Edition)
Was hätte ich sonst tun sollen?
»Und hier: ›Unsere Staatsgewalt ist zu mild. Die Unterordnung, und zwar die unbedingte Unterordnung während der Arbeit, unter die einzelverantwortlichen Anordnungen der sowjetischen Leiter, der Diktatoren, seien sie nun gewählt oder von Sowjetinstitutionen ernannt, die mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet sind‹.« Er klappte das Buch zu und nahm ein anderes, las mir wieder irgendwelche scheußlichen Stellen vor.
»Kämpfen wir dafür?«, fragte er mich. »Für Akkord und Fließbandarbeit?«
Was sollte ich ihm antworten?
Dann entdeckte er die Verräterliteratur, wie er sie nannte: die ausgetretenen und ausgeschlossenen ehemaligen Kommunisten, Arthur Koestler, Manès Sperber, die Erinnerungen der deutschen Kommunistin Rosa Meyer-Leviné, den Russen Lew Kopelew und den Spanier Jorge Semprún.
»Toni, wir hätten es wissen können«, sagte er.
»Du hättest es wissen können«, sagte ich. »Ich war nie so bescheuert wie du.«
»Wie kann das sein, dass man das Gute will, das Richtige und dann …«
»… in einer Sekte endet«, schlug ich vor.
»Ich hätte ein Mörder werden können«, sagte er.
Meine beiden Männer zogen so unterschiedliche Schlüsse aus ihrer maoistischen Phase, wie Alexander diese Zeit nannte. Alexander schüttelte sie ab; bei Paul blieb ein tiefes Misstrauen gegen sich selbst zurück.
71. Alexander heute
Alexander hatte seine maoistische Phase nicht in allzu schlechter Erinnerung. Eine jugendliche Überspanntheit, ein Fehler, schlimm, das schon, aber er hatte in dieser Zeit viel gelernt. Bei einem Empfang sprach ihn vor einigen Jahren – wenn er richtig überlegte, wohl eher vor einigen Jahrzehnten – ein Banker von der Deutschen Bank an: »Waren Sie das nicht, der bei uns einmal eine Fensterscheibe eingeworfen hat?« Er hatte dem Mann fest in die Augen gesehen: »War es nicht Churchill, der gesagt hat, dass man kein Herz hat, wenn man mit zwanzig nicht Kommunist ist, und keinen Verstand, wenn man es mit dreißig immer noch ist?« Der Mann hatte etwas gezwungen gelächelt, man hatte die Gläser aneinandergestoßen, und Helmholtz war zum nächsten Tisch gegangen.
In den frühen Siebzigern hatte sich der Bund Kommunistischer Arbeiter aus Freiburg mit einigen anderen Gruppen aus Westdeutschland zum Kommunistischen Bund Westdeutschland KBW zusammengeschlossen, mit allem Drum und Dran, Zentralkomitee, freigestellten Berufsrevolutionären, Büros, erst in Mannheim, dann in Frankfurt. Mischa wurde in das erste Zentralkomitee gewählt und verließ Freiburg. Sein natürlicher Nachfolger war Mike, der Student mit den roten Haaren. Alexander wurde in die Freiburger Ortsleitung gewählt.
Dieser Aufstieg hatte etwas Beruhigendes für ihn, so als würde er nun von dem Makel seiner bürgerlichen Abstammung befreit. Diese hatte ihn belastet, denn nur das proletarische Element schien immer den richtigen Weg zu kennen oder ihn auf geheimnisvolle, instinktive Weise zu gehen.
Er erinnerte sich noch auf den Sturm auf den Bauplatz in Wyhl. In der Gegend direkt um den Bauplatz, auf dem das Kernkraftwerk entstehen sollte, war ein Demonstrationsverbot verhängt worden. So hatten die Bürgerinitiativen zu einer großen Kundgebung nach Sasbach aufgerufen, und Zehntausende strömten zusammen. Am Ende der Kundgebung hieß es, es sei zwar verboten, am Bauzaun zu demonstrieren, aber dort spazieren zu gehen könne niemandem untersagt werden. Alexander war mit Toni und Reintraud in deren altem R4 zur Kundgebung gefahren. Gemeinsam spazierten sie dann mit einigen Zehntausend Menschen zum Bauzaun.
Plötzlich sahen sie Paul.
Er war mit einer Gruppe Gewerkschafter aus Freiburg da. Alexander sah, wie er und seine Kollegen Gestrüpp, Reisig, Äste und Ähnliches aus dem Wald anschleppten und neben dem Zaun auftürmten, bis dieser Turm den Zaun überragte. Dann kippten sie weiteres Gestrüpp auf die andere Seite des Zauns. Vor ihren Augen entstand eine Art Brücke, eine sehr komfortable, leicht begehbare Brücke über den Zaun. Toni hatte sofort mitgeholfen und Äste aus dem Wald gezerrt. Alexander sah, wie auch an anderen Stellen derartige Brücken entstanden. Die Demonstranten strömten darüber auf den Bauplatz und besetzten ihn.
Warum war er nicht auf diese Idee gekommen? Warum Paul? Lag das an seinem legalistischen bürgerlichen Klassenbewusstsein? Wahrscheinlich. Er fühlte sich klein und gedemütigt vor dem wahren revolutionären Bewusstsein, das Paul an den Tag
Weitere Kostenlose Bücher