Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
heißen?«, fragte sie steif. Sie hätte ihn nicht noch ermutigen sollen, aber sie war neugierig. Was glaubte er von ihr zu wissen? Sicher nichts von ihrer wilden Ader, jenem Ungestüm, das sie so sorgsam verborgen hielt, dass nicht einmal ihre Familie davon wusste.
Er kaute eine Weile gedankenverloren, dann schluckte er. Seine neugierig wandernden Augen ließen ihr Gesicht keine Sekunde los. »Lassen Sie mich Ihnen erklären, wie ich Sie sehe, und Sie werden wissen, was ich meine.«
Sie schnaubte entrüstet. »Das haben Sie mir bereits mitgeteilt. Sie halten mich für eine trübsinnige alte Jungfer mit einem Hang zur Manipulation.«
Er lachte leise. »Sie schaffen es, das so... trübsinnig klingen zu lassen.« Er legte Messer und Gabel weg, beugte sich vor und studierte sie. »Ich sehe eine Frau, die sich sehr bemüht, unbemerkt zu bleiben. Eine Frau, die auf eigenen Wunsch bei den Mauerblümchen sitzt, nicht, weil sie es nötig hätte. Die einzige Tochter eines Earls – man würde meinen, Sie müssten ohne weiteres einen Ehemann finden. Ich sehe keine offenkundigen Mängel.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Und was ist mit den weniger offenkundigen?«
Er lachte wieder und beugte sich so weit vor, dass sie das Rasierwasser riechen konnte, das er morgens benutzt hatte, reich an Gewürzen und Sandelholz. »Ihre Stärken und Schwächen gehen Hand in Hand, so dass es unmöglich ist, sie zu unterscheiden.«
»Oh«, sagte sie und mühte sich um einen gelassenen Tonfall. »Oh«, wiederholte er neckisch. Er zog die Augenbrauen zusammen, während er sie taxierte. Aus dieser Entfernung waren sie eher grün als braun. Bernsteingefleckter Smaragd, dachte sie zu ihrem eigenen Vergnügen. Doch das Vergnügen war getrübt, denn seine Nähe erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. »Ihr Gesicht, zum Beispiel – ist nicht schön.«
»Ich habe nie nach Schönheit gestrebt«, sagte sie beißend und stach in das schlaffe Gemüse. »Sie ruft weder meine Bewunderung hervor noch meinen Neid.«
»Was sie auch nicht sollte, denn Sie sind dennoch eine gut aussehende Frau, und zwar auf eine Art, die bloße Schönheit sich ihrer Seichtheit schämen lässt.«
Victoria lächelte unerfreut. »Die ›bloße Schönheit‹, wie Sie das nennen, hat mich auch ihrerseits nie beneidet.« Trotz Victorias reflexartigem Zynismus, in Raeburns Beschreibung lag eine Aufrichtigkeit, die sie seit sehr langer Zeit bei keinem mehr verspürt hatte. Das verwirrte sie – und befeuerte die warme Röte, die sich auf ihre Haut legte, wo immer sein Blick sie berührte.
»Das sollte sie aber«, insistierte er. »Ihre Stirn ist hoch, was kein Makel ist, weil sie das Kinn ausbalanciert, das einen Hang hat, sich vorzuschieben, wenn Sie gereizt sind. Wie jetzt. Sie sollten etwas mehr darauf achten.« Er streckte die Hand aus, und bevor sie noch begriff, was er vorhatte, berührte er ihr Gesicht, folgte der Kontur ihrer Wangen zum Kinn und strich darüber. Die Berührung war leicht wie ein Schmetterling, auch wenn sie die Schwielen an seiner Hand spürte, fein und kraftvoll. Sie hielt den Atem an, während in ihrer Mitte die Begierde pochte. Instinktiv wandte sie sich seiner Zärtlichkeit zu. In ihrem Kopf flüsterte es, viel zu lang, viel zu lang, und sie hörte das gefährliche, leichtsinnige Rauschen ihres eigenen Bluts. »Ein ausgeprägtes Kinn, aber nicht zu schwer – eigensinnig, aber feminin, genau wie die schmale Nase.« Die er gleichfalls berührte. Nie hatte irgendjemand mit solch feinfühliger Wissbegierde ihre Nase berührt. Es fühlte sich sonderbar an und fast intimer als eine schamlose Zärtlichkeit. Er lächelte, während er sie studierte, und sein herbes Gesicht wurde weicher, bis es fast sanftmütig war. Fast. In seinen Augen lag ein besitzergreifendes Leuchten, das eines Lords, der ein Territorium inspizierte, das bald sein Eigen sein würde.
Sie schüttelte seine hypnotische Berührung ab, richtete sich abrupt auf und wich zurück. »Es ist nicht nötig, zu werben und schöne Worte zu machen. Ich gehöre Ihnen. Per Wort und per Vertrag.«
Eine Maske schob sich vor Raeburns Gesicht. »Verzeihen Sie, Mylady. Mir war nicht klar, dass Bewunderung unerwünscht ist.«
»Bewunderung – vielleicht schon!«, erwiderte sie. »Schmeichelei? Wohl kaum.«
»Meine liebe Lady Victoria, wie Sie es so treffend formuliert haben, ich habe es nicht nötig, Sie zu umschmeicheln.« Er schob den Stuhl zurück und erhob sich abrupt. »Kommen Sie. Wir sind für
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