Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
seiner kalt an, klein und zerbrechlich. Er hätte sie mit einem einzigen Griff zermalmen können. Er spürte die Zerbrechlichkeit ihrer Knochen, und als sie aufsah und über dem Tisch seinem Blick begegnete, konnte er in ihrem Gesicht lesen, dass sie sie gleichfalls spürte.
Doch in ihren blauen Augen stand keine Angst und keine Abscheu vor seiner Kraft. Stattdessen leuchteten sie vor Trotz, und sie schürzte hochmütig die Lippen, als sie antwortete: »Lassen Sie mich los. Sie tun mir weh.«
Jedes Wort ein Vorwurf, vernichtender als die hasserfüllteste Tirade. Er ließ sie los, als hätte er sich verbrannt. Monster. Ungeheuer . Die Worte hätten nicht stechender sein können, hätte sie sie ihm tatsächlich entgegengeschleudert.
Byron setzte sich zurück, atmete pfeifend aus. »Also, was denken Sie?«, sagte er und brachte das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurück, was eine Art krankhaften Flagellantentums darstellte, wie er wusste, aber nie hatte er es mehr verdient als heute.
»Von Ihnen?« Lady Victoria lehnte sich gleichfalls zurück, die Augen hinter einem hellen Wimpernkranz verborgen, während sie das Spiel des Lichts auf der Gabel betrachtete, die sich müßig zwischen ihren Fingern drehte. Dann sah sie ihn vielsagend an und legte die Gabel mit äußerster Sorgfalt auf den Teller. »Euer Gnaden, wie Sie gesagt haben, ich darf kaum wagen, mir eine Meinung über Sie anzumaßen.«
Byron schnaubte. »Ich glaube nicht, dass Sie es je ›nicht gewagt‹ haben, eine Meinung zu haben.«
Ein Anflug von Belustigung huschte über ihr Gesicht, und ihr entwich ein kurzes überraschtes Lachen, das ihm wohlig über den Rücken schoss und ihn nach mehr hungern ließ. Ihre heitere Miene veränderte sich augenblicklich wieder, doch als sie verschwand, nahm sie auch die Boshaftigkeit mit, die ihre Augen zu Schlitzen zusammengezogen und ihr Gesicht älter und härter hatte wirken lassen.
»Welch unerwartete Leichtfertigkeit, Euer Gnaden. Allein schon deshalb muss ich nachdenken.« Sie legte den Kopf schief und studierte ihn. Er fühlte sich unter ihrem eindringlichen Blick unwohl. Nicht, weil sie ihm durch die Kleider zu sehen schien – derartige Blicke hatte er in der Vergangenheit reichlich erhalten und verteilt und beides genossen -, sie schien ihm durch die Haut zu schauen, bis auf die Sehnen, die seine Muskeln an die Knochen banden, und bis ins Hirn, wo sie seine Gedanken las, die rasend auf der Flucht waren. Konnte sie seine verborgene Schwäche sehen, die kein Arzt je verstanden hatte? Er glaubte fast, dass sie zu allem fähig war.
Endlich sagte sie etwas. »Ich denke...« Sie pausierte. »Ich denke, in gewisser Weise haben alle Recht. Ich denke, Sie lieben den Schatten, seine Dramatik und Anonymität. Aber ich glaube auch, dass Sie die gleiche Art von Angst haben, die Sie mir unterstellen. Feigheit hinter der Bravour.« Sie verzog den Mund spöttisch zu etwas, das für ein Lächeln zu bitter war. »Eines haben wir gemeinsam: Wir halten jeder den anderen für einen Feigling und glauben, dass er irrt, was uns angeht.« Sie hob ihr Glas, das immer noch halb voll Wein war. »Auf die Feigheit in all ihren kühnen Erscheinungsformen!«
»Sonderbarer Gegenstand für einen Trinkspruch«, sagte er, doch er hob gleichfalls das Glas, und sie tranken.
Sie nahm noch ein paar halbherzige Bissen von ihrem Essen, dann legte sie die Gabel weg.
»Ich bin fertig«, sagte sie fast schon beiläufig und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Wollen Sie mich nicht hinausbegleiten?«
Byron staunte nur, wie vollständig sie Haltung wahrte. Ihre Gesichtszüge waren vollkommen entspannt, und ihre langfingrigen Hände lagen reglos auf dem Tisch. Kein Zucken, nichts, das auf Nervosität hätte schließen lassen. Einzig, dass sie seinem Blick auswich, als er sie ansah, verriet, dass sie nicht so gelassen war, wie sie tat.
»Natürlich«, murmelte er und erhob sich. Lady Victoria behielt Platz, bis er den Tisch umrundet und den Stuhl für sie zur Seite zog. Sie erhob sich graziös, nahm den gebotenen Arm und verließ majestätisch wie eine Königin mit ihm zusammen den Raum.
4. Kapitel
Victoria hörte kaum noch die eigenen Röcke rascheln und Raeburns Schritte auch nicht. Sogar das Geräusch des Regens, der gegen die Fenster peitschte, ging fast im Keuchen ihres Atems und dem Hämmern ihres Herzens unter. Sie mühte sich vergebens, einen Anstrich von Gelassenheit zu wahren, ihr Herz und ihr Atem gerieten immer weiter
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