Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
hatte sie getan? Und was würde sie geben, es wieder zu tun?
Sie schluckte einen Fluch hinunter, als es erneut und hartnäckiger klopfte.
»Herein«, rief sie und schob sich an den Kissen hoch, wobei sie die Tagesdecke fest um die Schultern gezogen hielt.
Annie, die Zofe, trat ein und machte die Tür hinter sich zu. Sie schien sich noch mehr vor Victoria zu ängstigen als am ersten Tag.
Kein gutes Zeichen. Victoria verkniff sich ein Stirnrunzeln.
»Seine Gnaden dachten, Sie würden vielleicht in Ihrem Zimmer frühstücken wollen, während Ihre Kleider fertig werden«, sagte Annie und krümmte sich hinter dem schwer beladenen Tablett.
»Meine Kleider…«, wiederholte Victoria begriffsstutzig und schaute sich nach ihrer Reisetruhe um. Sie war fort. »Meine Kleider!«
Annie zuckte zusammen, die Teetasse klirrte auf der Untertasse. »Seine Gnaden haben versprochen, dass Sie Ihre Kleider zurückkriegen, wenn Sie abreisen.« Die Zofe zögerte.
»Aber...«, keuchte Victoria mit wachsendem Unbehagen.
Annie wirkte wie ein Kaninchen in der Falle. »Seine Gnaden – also, Seiner jetzigen Gnaden Großonkel hat für die weiblichen Gäste drei Näherinnen eingestellt. Seine jetzige Gnaden lässt sie sonst nur Vorhänge und Wäsche und so für das Witwenhaus machen, aber jetzt lässt er ein paar Kleider für Sie machen.« Sie sog die Luft ein, als brauche sie Kraft für das nächste Geständnis. »Und dann noch die Korsetts. Seine Gnaden hat welche bestellt, nach Vorlage Ihres Wechselkorsetts. Sie müssten bis Mittag aus Leeds da sein.«
»Er hat Korsetts bestellt?« Sie wäre fast aus dem Bett gesprungen und beherrschte sich gerade noch. Der Mann hatte Nerven! Stahl ihr die Kleider, während er nach Belieben ihr Leben auf den Kopf stellte, und hielt sie faktisch in ihrem Zimmer gefangen, wo sie ihren Zorn einzig an einem verängstigen Mädchen auslassen konnte. Als hätten die Ereignisse der letzten Nacht ihm irgendwelche speziellen Rechte eingeräumt!
Nein, mahnte sie eine boshafte kleine Stimme, sie hatte ihm diese Rechte eingeräumt, als sie den Vertrag unterzeichnet hatte. Allein der Gedanke, dass sie ihm vor wenigen Stunden schon fast vertraut hatte, während er ihre Situation sofort ausgenutzt hatte! Ein Fehler, den sie nicht noch einmal machen würde.
Sie brachte ihre Stimme unter Kontrolle, bevor Annie noch vor schierem Schrecken tot umfiel. »Bitte, bringen Sie mir das Tablett, Annie«, sagte sie. »Und dann dürfen Sie gehen. Wie es scheint, brauche ich heute Morgen keine Hilfe zum Ankleiden.«
Byron saß im Arbeitszimmer der Henry-Suite und kämpfte sich durch einen Albtraum aus Aktenmappen, Tagebüchern und Notizzetteln – die Geschäftsunterlagen seines Vorgängers. Obwohl er schon annähernd zwei Jahre auf Raeburn lebte, konnte Byron die Räumlichkeiten immer noch nicht als sein Eigen ansehen. Viel zu lange hatten andere Männer darin gewohnt und Spuren hinterlassen, die so unverwechselbar waren, wie seine es wohl nie sein würden. Das war das Geheimnis von Raeburn Court: Man fühlte sich wie ein Fremder.
Und dennoch hasste er es nicht. Das war es, das nie aufhörte, ihn zu faszinieren. Er schimpfte über das Herrenhaus, er wetterte über seine Unzulänglichkeiten, doch er konnte es nicht lassen. Das erste Mal hatte er es gesehen, als sein Onkel ihn im Alter von zwölf Jahren zu sich beordert hatte und er noch leicht zu beeindrucken gewesen war. Er hatte die ganze Hässlichkeit gesehen, die ausgedehnten Anbauten, die jeder denkbaren Architekturperiode entstammten und sich in halsbrecherischen Winkeln zu einem Berg aus Kalkstein türmten. Doch schon damals hatte das Haus nach ihm gerufen. Schon damals hatte es von dunklen Geheimnissen und längst vergangenen Passionen geflüstert, die sich in seinen Stein eingebrannt hatten. Und als sein Onkel ihm in einem der wenigen lichten Momente erklärt hatte, es sei Byrons Pflicht, Raeburn Manor wieder zur ursprünglichen Pracht zu verhelfen, hatte er aufrichtig versprechen können, ein Leben lang alles zu tun, was in seiner Macht stand. Sein Onkel war ihm damals sehr geschwächt erschienen. Wer hätte gedacht, dass es fast ein Vierteljahrhundert dauern würde, bis Byron wieder einen Fuß in das Herrenhaus setzte?
Da war er nun und versuchte das Unmögliche: die Ruine in ein Haus zu verwandeln, das einen angemessenen Stammsitz für einen Herzog darstellte. Als designierter Erbe hatte er bei einem halben Dutzend anderer Besitzungen freie Hand gehabt und sie
Weitere Kostenlose Bücher