Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
nicht glaubte, dass sie absichtlich gelogen hatte – er zweifelte lediglich, ob sie zu sich selbst wirklich ehrlich war. Die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung mochte eine machtvolle Triebfeder sein, aber sie allein konnte nicht ausreichen, eine Frau, die so willensstark wie Victoria war, über so lange Zeit im Zaum zu halten.
Victoria beendete ohne Vorwarnung ihr Schweigen. »Wussten Sie, dass Annie die Tochter Ihres Großonkels ist?«
Byron sackte auf die Absätze zurück, so unvermittelt traf ihn die Frage. »Warum fragen Sie das?«, erwiderte er und sah zu ihr hinüber. Oder zumindest zu ihren Beinen. Sie stand auf halber Höhe auf der Bibliotheksleiter und starrte finster auf ihn hinab, den hinteren Teil des Rocks hochgeschoben, die Fesseln und die halben Waden entblößt.
»Weil ich unerhört neugierig bin. Gibt es einen besseren Grund?«
»Keinen, der glaubhaft wäre.« Er verlagerte das Gewicht, um bessere Sicht auf ihre schwarz bestrumpften Beine zu haben. Er hatte sie zwei Nächte hintereinander nackt gesehen, aber diese unbeabsichtigte Blöße hatte immer noch ihren Reiz.
Er hätte sie vermutlich darauf aufmerksam machen sollen, und das würde er auch tun, aber jetzt noch nicht. Etwas an diesem Anblick weckte in ihm eine liederliche Boshaftigkeit, die er lange Zeit nicht mehr verspürt hatte.
»Um Ihre Frage zu beantworten, ja, ich war mir ziemlich sicher, dass sie die Tochter meines Großonkels ist. Mrs. Peasebody hat ein paar Andeutungen fallen lassen, beziehungsweise das, was sie für Andeutungen hält, und Annie ähnelt bemerkenswert Porträts, die meine Urgroßmutter als junges Mädchen zeigen.«
»Oh«, sagte Victoria und drehte sich zum Regal zurück. »Halten Sie das nicht für einzigartig?«
»Dass mein Großonkel ein illegitimes Kind in die Welt gesetzt hat?«, fragte Byron unverblümt. »Er war ein lüsterner alter Bock. Ich staune nur, dass es nicht mehr sind.«
Sie beugte sich nach einem entfernter stehenden Buch, und der hintere Teil ihres Rocks hüpfte nach oben, während sich das Vorderteil an die Leiter presste. »Nein. So habe ich das absolut nicht gemeint. Was ich gemeint habe, ist: Wenn Ihr Großonkel Annies Mutter geheiratet hätte, dann würden Sie Annie Cousine nennen, sie mit einer ordentlichen Mitgift ausstatten und zusehen, dass sie ihre sechs Saisons in London bekommt, aber da er es nicht getan hat, ist sie jetzt eine Kammerzofe.«
Byron zwinkerte. »Finden Sie es denn eigenartig?«
Sie blickte auf ihn herab. »Ich denke, ja.«
»Und was hätten Sie getan? Sie nach London geschickt, damit alles sie auslacht und brüskiert? Sie mit dem Versuch, sie in eine Lady zu verwandeln, unglücklich gemacht?«
Victoria seufzte. »Oh, ich weiß auch nicht. Es erscheint mir nur irgendwie nicht fair.«
»Wir könnten alle unsere Titel und unser ererbtes Vermögen aufgeben«, führte er aus. »Dass ich ein Duke bin und Fane ein Dienstbote, hat auch nichts Faires an sich, wenn man es genau betrachtet. Ich habe nichts dazu getan, mir mein Geburtsrecht zu verdienen.«
Sie machte ein reumütiges Gesicht. »Ich denke, ich hänge schon sehr an meinen Privilegien und würde eine schreckliche Waschfrau abgeben.«
»Da haben Sie es. Das System pflanzt sich von allein fort.« Byron schob ein weiteres Buch ins Regal zurück. »Sie sollten sich für eine Woche oder zwei zu Lord Edgingtons Zirkel aus Amateurphilosophen gesellen. Dann hätten Sie genug von diesen gesellschaftspolitischen Debatten, die sich immer nur im Kreise drehen.« Er sah wieder zu ihr auf. »Falls Ihnen dann wohler ist, Annie trifft sich mit Andrew, dem Lakaien, wie es heißt, und ich habe ihr eine Mitgift von hundert Pfund versprochen und Andrew die Stelle als Pförtner, wenn Silas einmal stirbt. Ich weiß, dass es nicht üblich ist, dem Personal romantische Beziehungen zu gestatten, aber unter den gegebenen Umständen schien es mir das Beste zu sein.«
Victoria lächelte ohne den üblichen Anflug von Ironie. »Ich vermute, das ist es tatsächlich. Es mag immer noch nicht fair sein, aber es ist fairer als alles, was ich mir vorstellen kann.« Sie stieg die Leiter herab, ging zur nächsten Abteilung.
Byron prüfte die unteren Fächer des Regals, mit dem Victoria gerade fertig geworden war, und kam deutlich langsamer voran, nachdem Victoria wieder die Leiter hinaufgestiegen war und mit jeder Bewegung verführerisch Fesseln und Waden entblößte. Als sie mit ihrem Regal fertig war, war Byron so weit zurückgefallen,
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