Rebellische Herzen
lächelte sie grundlos vor sich hin, gestattete den Kindern ungewohnte Freiheiten und trug ihre besten Schuhe, weil die zweitbesten immer noch im alten Kinderzimmer waren. Sie dachte an Liebe und Heirat und all das Unaussprechliche, worauf eine Lady Charlotte Dalrumple jedes Anrecht verloren hatte.
Disziplin. Was jetzt Not tat, war Disziplin. Dienstherrn
heiraten
ihre Gouvernanten nicht. Und Lord Ruskin, von Adel, reich und gut aussehend, tat das schon zweimal nicht.
Lady Ruskin hatte immer befürchtet, Wynter werde einen
Fauxpas
begehen, der sein gesellschaftliches Ansehen ruinierte. Auch Charlotte hatte sich deshalb gesorgt. Aber mittlerweile war ihr klar, dass all die exotischen Abenteuer nur zu seiner romantische, skandalumwitterten Aura beitrugen. Das und die Art, wie er sie ansah, brachten Charlottes Blut in Wallung und ließen sie von Nächten voller zarter, hingebungsvoller Küsse träumen.
»Lady Miss Charlotte, warum sind Sie so rot und fleckig im Gesicht?«, fragte Robbie.
Disziplin. Was jetzt Not tat, war Disziplin – und irgendetwas, um ihre Zöglinge von ihrer ständig wechselnden Gesichtsfarbe abzulenken. »Ihr beiden macht so große Fortschritte, ich denke, das sollten wir feiern. Vielleicht mit einer Geschichte aus
Tausendundeiner Nacht.
Würde euch das gefallen?«
Robbie strahlte, Leila gähnte.
»Willst du keine Geschichte hören, Leila?«, fragte Charlotte erstaunt.
»Doch«, schrie Leila.
»Eine Lady spricht immer in gemäßigtem Ton.« Charlotte hatte das so oft heruntergebetet, dass sie den Satz ganz automatisch sagte, während sie Leila prüfend ansah. Das Mädchen war hohlwangig und konnte kaum die Augen aufhalten. Charlotte legte ihr die Hand auf die Stirn. »Hast du schlecht geschlafen letzte Nacht?«
»Nein. Doch.« Leila folgte mit dem Zeh einer Nut im polierten Parkettboden. »Ich weiß nicht.«
Sie benahm sich seltsam, aber Fieber hatte sie keines.
»Du hast doch nicht etwa Angst vor diesem Gespenst?«, fragte Charlotte so beiläufig wie möglich.
Charlotte hätte Leilas Gesichtsausdruck nur schwerlich beschreiben können. Erschreckt, aber irgendwie auch verschmitzt.
»Haben wir denn einen Geist hier?«, fragte Leila.
»Eine Küchenmagd hat erzählt, sie hätte etwas in der Nähe des Speichers gesehen«, wiegelte Charlotte ab und bereute sofort, das Thema angeschnitten zu haben.
»Wirklich? Haben wir ein eigenes Gespenst? Ich hab sowas gehört, aber ich hab gedacht, es stimmt nicht. Das ist ja toll!« Robbie rutschte herüber. »Hat es eine Kette zum Rasseln oder den Kopf unter dem Arm? jammert es? Oder hinterlässt es eine Blutspur?«
»Robbie!« Charlotte war entrüstet. »Hör mit diesem grausigen Gerede auf! Wo hast du diesen Unsinn her?«
Aber Robbies Enthusiasmus ließ sich nicht bremsen. »Jeder weiß, dass Gespenster sowas machen.«
»Ist ›jeder‹ etwa dein neuer Freund aus dem Pfarrhaus? fragte Charlotte.
Robbie hatte den Sohn des Vikars eine Woche zuvor kennen gelernt und die beiden waren seither so oft wie möglich zusammen gewesen. Sie hatte Alfred für einen braven jungen gehalten. Sein Vater war ein Muster an Anstand und Ergebenheit, wenn auch nicht allzu höflich, aber immerhin ein Gottesdiener. Also hatte sie Robbie seine erste Freundschaft in der neuen Heimat gestattet.
Doch für Leila waren Robbies häufige Abwesenheiten nicht leicht gewesen und die jungen hatten offensichtlich über Dinge geredet, über die man eigentlich nicht sprechen sollte.
»Alfred sagt, im Speicher sind Lichter zu sehen. Uhhh!« Robbie fuhr Leila mit dem Zeigefinger den Rücken hinauf.
Leila schlug mit der Faust nach ihm.
Robbie wollte Rache nehmen, doch Charlotte packte ihn am Kragen. »Mit Gewalt löst man keine Probleme«, maßregelte sie Leila.
»Er hat angefangen.«
»Hab ich nicht.«
»Ihr beide habt Glück, dass ihr einander habt.« Charlotte betrachtete die hitzigen, wütenden Kindergesichter und erinnerte sich, wie sehr sie sich Geschwister gewünscht hatte und wie viel Einsamkeit ihr so erspart geblieben wäre. »Kein Kind in ganz England ist wie ihr beide in EI Bahar aufgewachsen. Sobald ihr irgendjemandem von euren Abenteuern erzählt, werdet ihr nur ordinärer Neugierde begegnen. Aber ihr werdet euer ganzes Leben lang jemanden haben, der weiß wie es ist, in der Wüste zu sein. Das verbindet euch miteinander. Ihr solltet dieses Band nicht durch dumme Streitereien gefährden.«
Die Kinder sahen sie entgeistert an und einen Moment lang glaubte Charlotte,
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