Rebellische Herzen
sie hätte die beiden tatsächlich überzeugt.
Dann rammte Robbie seiner Schwester den Ellenbogen in die Rippen. »Alfred sagt, dass Geister gerne dünne Mädchen erschrecken.«
Die beiden hatten nichts verstanden. Charlotte würde nicht aufgeben, aber sie musste an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen. Und im Moment schien der Geist das dringlichere Thema zu sein. »Irgendwer hat hier zu viel Phantasie«, sagte sie, als könne sie so die Gerüchte zum Verstummen bringen. »Es gibt keine Gespenster und selbst wenn es sie gäbe, wären sie nicht so verwegen, das Haus
eures
Vaters zu betreten.«
»Jedenfalls nicht, wenn Großmama hier ist«, verkündete Leila. »Großmama vertreibt jeden Geist.«
Die beiden kicherten.
»Jetzt ist es aber genug«, rügte Charlotte und das Gekichere hörte auf. Charlotte wusste nicht, wie sie der offenen Respektlosigkeit der beiden ihrer Großmutter gegenüber beikommen sollte. Adorna hatte keine Ahnung, was sie mit ihren neu gewonnenen Enkelkindern anfangen sollte und versuchte auch gar nicht, es herauszufinden. Sie behandelte die beiden wie Kuriositäten, die genau studiert werden mussten. Solange Lady Ruskin sich nicht entschloss, am Leben ihrer Enkelkinder teilzuhaben, würde sie weiterhin die Zielscheibe ihres Spotts bleiben.
»Hol die Kerzen, Robbie«, kommandierte Charlotte.
Im Kamin vertrieben ein paar brennende Scheite die Kälte des Zimmers. Charlotte ging mit den Kindern zu einer Holzbank, die vom Feuer ganz warm war. Eine Freistunde würde ihnen allen gut tun.
Zwischen der Bank und der Feuerstelle lag ein Teppich. Ein hübscher, großer Kaminvorleger … eine Verführung. Charlotte betrachtete das dicke, farbenprächtige Gewebe und hatte Wynter vor Augen, wie er allabendlich im alten Kinderzimmer herumlümmelte. In die Kissen gefläzt, lachend, schön und unanständig. Manchmal, wenn er so entspannt und zufrieden war,
erinnerte er sie
an ihr jüngeres Selbst, als ihre Eltern noch lebten, und auch sie alle Herausforderungen noch selbstbewusst und ohne Zögern angenommen hatte. Wie sie getan hatte, was sie wollte, ohne einen Tadel fürchten zu müssen. So viele Jahre war das nun her, und doch hatte sie es nicht vergessen.
»Lady Miss Charlotte, was haben Sie denn?«, fragte Robbie. Charlotte erwachte aus ihren Träumen und sah, dass die beiden sie fragend anblickten. »Ich glaube, heute legen wir uns zum Vorlesen am besten hin sagte sie und staunte selbst über ihre Kühnheit. Aber dann lieferte ihr ein Blick auf Leila einen Vorwand. Das Kind war so augenscheinlich übermüdet, dass es vermutlich einschlafen würde.
»Ja!« Robbie ließ sich auf den Teppich plumpsen und streckte die Füße zum Feuer.
Leila tat es ihm gleich und drückte sich an ihn. Er schubste sie weg. »Da liegt Lady Miss Charlotte.«
Leila schubste zurück. »Dann mach ihr Platz.«
»Kinder.« Ein einziges Wort nur, aber Robbie und Leila entging der Tonfall nicht. Sie rutschten schleunigst auseinander und ließen Charlotte eine maßgeschneiderte Lücke. Charlotte kamen Zweifel als sie sich zu Boden sinken ließ. Gouvernanten waren schon wegen kleinerer Vergehen entlassen worden. Doch die Ruskins waren letzte Nacht in London geblieben und es war nicht zu erwarten, dass sie bei diesem Regen nach Hause fahren würden. Sie konnte beruhigt sein; keiner würde sie so sehen.
Heute würde sie Wynter nicht mehr sehen.
Charlotte legte sich seufzend zurück, fühlte den Teppich unter dem Rücken und erwartete, dass sie sich nun töricht fühlen würde. Aber sich freiwillig flach auf den Boden zu legen, war doch nicht dasselbe wie mit Gewalt hinuntergedrückt und mit Küssen besänftigt zu werden.
Es war nicht dasselbe und es erschien ihr nicht töricht. Der Boden gab ihr Halt, das Feuer wärmte ihr die Füße und die Decke mit den alten Fresken erfreute ihre Augen. Sie lächelte.
Robbies spitzer Ellbogen bohrte sich in ihre Seite. »Lady Miss Charlotte, lesen Sie doch.«
»Ja.« Charlotte schlug das Buch auf und fand die Stelle, an der sie aufgehört hatten.
Robbie zog ein Knie zu sich heran ünd legte das andere Bein darüber. Der Fuß schlug den Rhythmus zu Charlottes Geschichte. Leila kuschelte sich an sie und legte ihr die Wange auf den Arm. Und Charlotte ließ einmal mehr den trüben Tag hinter sich, um in ein fernes Land zu entschwinden, in dem sie ein leichtfüßiger Dieb war, der eine Schatztruhe entdeckte und eine schöne Frau befreite.
Im Schulzimmer herrschte Stille, als sie geendet
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