Rebellische Herzen
an: »Piper, still! Ich erlaube keine Pöbeleien.«
Tante Piper lief hässlich violett an und verstummte.
Zufrieden, dass sie den Haufen unter Kontrolle gebracht hatte, fuhr Adorna fort. »Charlotte, Liebes, diese guten Leute hier berichten mir etwas, das mir große Sorge bereitet.«
Ein Bericht. Nun ja, es gab eine Reihe von Indiskretionen. Sie
waren
geschehen und zwar ausschließlich mit Wynter. Die skandalöse Unterredung in der Gemäldegalerie. Der Kuss im alten Kinderzimmer. Die unerhörte Beinahe-Berührung in seinem Schlafzimmer …
»Sie wurden gesehen, als Sie Wynter auf dem Hügel einen Kuss gaben.«
Charlotte starrte fassungslos. »Wann?«
»Ist es mehr als einmal passiert?«, krähte Orford.
Onkel Porterbridge rutschte die Hand aus und landete hinter Orfords Ohr.
Adorna befühlte mit den Fingerspitzen kurz ihre Schläfe.
»Heute, Charlotte, Liebes.«
Heute? Bei allen Augenblicken der Leidenschaft, die zwischen Wynter und ihr stattgefunden hatten, entrüstete sich die öffentliche Meinung ausgerechnet über einen züchtigen Kuss?
»Ist das wahr?«, fragte Adorna.
Die verblüffte Charlotte war nicht im Stande zu antworten.
»Der Pfarrer und seine Gattin haben die ganze schmutzige Szene beobachtet«, tönte Porterbridge jovial. »Zweifelst du etwa an ihren Worten?«
In diesem Moment ging Charlotte auf, wie durch und durch unzivilisiert der Umgang mit Wynter sie gemacht hatte. Jede Intimität zwischen einer Gouvernante und einem Gentleman war inakzeptabel.
Jede
Intimität, gleichgültig wie harmlos. Sie wäre die Erste gewesen, die das unterschrieben hätte … vor zwei Monaten. Nun konnte sie sich nur noch an die heftigeren Momente erinnern, die sie mit Wynter geteilt hatte. Und Gott sei Lob und Dank war keiner von denen beobachtet worden.
Sonst hätte sie nicht mit klarem Blick und ohne zu erröten hier stehen und zugeben können: »Ja, es ist wahr. Wynter hat mich heute Morgen geküsst.«
Der Aufruhr, der darauf folgte, erinnerte Charlotte an das Spektakel nach ihrer Weigerung, Lord Howard zu heiraten. Schlimmer war nur, dass Wynter der Ruf eines Barbaren vorauseilte, was der Sache erst die rechte Würze gab.
Tante Pipers Stimme prallte auf Charlottes Ohr wie das Kreischen eines Greifvogels. Der Pfarrer erging sich in dogmatischen Auslassungen. Adorna versuchte sich über das Geplapper hinweg Gehör zu verschaffen.
Charlotte erwiderte den Blick ihres Onkels voller Trotz und Verachtung, denn dieses Mal gab es kein Entrinnen. Niemand würde sie je wieder einstellen. Sie musste sich einen anderen Beruf suchen, oder ihren Namen ändern, oder das Land verlassen.
Das Geschrei war zu einem Crescendo angeschwollen, als ein Türknall es abrupt zum Verstummen brachte. Sofort drehten sich alle um.
Wynter stand auf der Schwelle, Howard hinter ihm.
»Jemand erklärt mir jetzt, was das hier zu bedeuten hat. Sie!«
Wynter zeigte auf Tante Piper. »Sie werden mir jetzt erklären, weshalb Sie in mein Haus gekommen sind und solche Misstöne von sich geben.«
Tante Piper liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, aber nicht unbedingt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eines Mannes, der vor Zorn kochte und von fremdländischen Einflüssen verdorben war. »Es geht … äh … um Ihre Gouvernante.«
»Lady Miss Charlotte.«
»Ah … ja. Ah … Lady Charlotte. Miss Dalrumple.«
Auch Charlotte war nur ein Mensch; sie genoss in vollen Zügen, wie Tante Piper vor dem höchst angespannten Wynter ins Stocken kam.
»Sie … äh … wurde gesehen … äh …«
Orford konnte seine Mutter nicht länger bibbern sehen. »Oh, um Himmels willen, Mama, er ist fast ein verdammter Ausländer. Sie« – er zeigte mit dem nackten Finger auf Charlotte – »hat sich wieder mal als Dirne erwiesen, als sie Sie heute Morgen geküsst hat, sodass jeder es sehen konnte.«
Lord Howard schnappte nach Luft und sah Charlotte mit großen, vorwurfsvollen Augen an, als sei er der gehörnte Ehemann.
Wynter trat weiter in die lange Galerie ein und baute sich vor Charlottes Vetter auf. »Ich erinnere mich an
dich. Du
warst der junge, der bei der Beerdigung meines Vaters zu mir gesagt hat, mein Vater wäre ein Bauer gewesen und ich sei ein Bastard.« Wynter fuhr seine Faust aus und schlug Orford ins Gesicht. Die Frauen kreischten. Wynter packte Orford am Kragen, bevor er umfiel. »Das war für meinen Vater.« Er langte ihm noch eine. »Und das ist für Lady Charlotte.« Er ließ ihn los und Orford fiel stöhnend zu Boden. Als er versuchte,
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