Rebus - 09 - Die Sünden der Väter
zu lassen.« Er schwieg einen Moment. »Zuerst sind wir nach Belgrad. Ein Flüchtlingsbus brachte uns nach Schottland.« Er zuckte die Achseln. »Das war vor fast fünf Jahren. Jetzt bin ich Anstreicher.« Ein Lächeln. »Lange Anfahrten kein Problem.«
Rebus sah zu Candice: Sie hatte angefangen zu weinen, Mrs. Petrec tröstete sie.
»Wir werden uns um sie kümmern«, versicherte Mrs. Petrec, den Blick fest auf ihren Mann gerichtet. Später, an der Tür, versuchte Rebus, ihnen etwas Geld zu geben, aber sie lehnten es ab.
»Ist es Ihnen recht, wenn ich ab und zu vorbeikomme und nach ihr sehe?«
»Aber natürlich.«
Er stand vor Candice.
»Ihr wirklicher Name ist Dunja«, sagte Mrs. Petrec leise.
»Dunja.« Rebus wiederholte das Wort. Sie lächelte, und ihr Blick wurde sanft, als setzte eine Verwandlung bei ihr ein. Sie beugte sich vor.
»Kiss the girl«, sagte sie.
Je ein Küsschen auf beide Wangen. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Rebus nickte, um ihr zu bedeuten, dass er alles verstand.
Am Auto angelangt, winkte er einmal, und sie warf ihm noch eine Kusshand zu. Dann fuhr er um die Straßenecke und hielt, die Hände fest um das Lenkrad geklammert. Er fragte sich, ob sie es schaffen, ob sie lernen würde zu vergessen. Er dachte wieder an die Worte seiner Exfrau. Was hätte sie jetzt von ihm gedacht?
Hatte er Dunja ausgenutzt? Nein, aber er fragte sich, ob das nur daran lag, dass sie ihm nichts über Telford hatte sagen können. Irgendwie hatte er das Gefühl, nicht das Richtige getan zu haben. Die einzige Entscheidung, die sie bislang selbst traf, war, als sie bei seinem Auto auf ihn gewartet hatte, nicht zu Telford zurückzugehen. Davor und danach waren ihr alle Entscheidungen abgenommen worden. In gewisser Weise war sie so eingesperrt wie eh und je, denn die Schlösser und Ketten befanden sich in ihrem Kopf; sie waren das, was sie vom Leben erwartete. Sie würde Zeit brauchen, um sich zu ändern, um wieder anzufangen, der Welt zu vertrauen. Die Petrecs würden ihr dabei helfen.
Als er in südlicher Richtung die Küste entlangfuhr und an Familien im Allgemeinen dachte, beschloss er, seinen Bruder zu besuchen.
Mickey wohnte in einer Neubausiedlung in Kirkcaldy; sein roter BMW stand in der Auffahrt. Er war gerade von der Arbeit heimgekommen und zeigte sich gebührend überrascht, Rebus zu sehen.
»Chrissie und die Kinder sind bei Chrissies Mutter«, erklärte er. »Ich wollte mir zum Abendessen was vom Inder kommen lassen. Wie wär's mit einem Bier?«
»Vielleicht lieber einen Kaffee«, sagte Rebus. Er setzte sich ins Wohnzimmer und wartete, bis Mickey mit zwei alten Schuhkartons zurückkehrte.
»Guck, was ich letztes Wochenende auf dem Dachboden gefunden habe. Ich dachte, das würd dich vielleicht interessieren. Milch und Zucker?«
»Ein Schuss Milch.«
Während Mickey in die Küche ging, um den Kaffee zu holen, warf Rebus einen Blick in die Schachteln. Sie waren mit Päckchen von Fotos gefüllt. Die Päckchen waren datiert, manchmal mit einem Fragezeichen dahinter. Rebus öffnete wahllos eines davon. Urlaubsschnappschüsse. Ein Kostümfest. Ein Picknick. Rebus hatte selbst keine Bilder von seinen Eltern, und die Fotos versetzten ihm einen gewissen Schock. Seine Mutter hatte dickere Beine, als er sich erinnern konnte, aber andererseits auch einen ganz hübschen Körper. Sein Vater zeigte auf jedem Bild dasselbe Grinsen, ein Grinsen, das Rebus und Mickey von ihm übernommen hatten. Als er sich weiter nach unten grub, fand er auch ein Bild von sich zusammen mit Rhona und Sammy an irgendeinem Strand, über den ein heftiger Wind pfiff. Peter Gabriel: »Family Snapshot«. Rebus konnte das Foto beim besten Willen nicht einordnen. Mickey kam mit einem Becher Kaffee und einer Flasche Bier zurück.
»Da gibt's welche«, sagte er, »bei denen ich keine Ahnung habe, wer die Leute sind. Verwandte vielleicht? Oma und Opa?«
»Ich glaub kaum, dass ich dir da groß weiterhelfen könnte.«
Mickey reichte ihm eine Speisekarte. »Hier«, sagte er, »der beste Inder der Stadt. Such dir was aus.«
Also traf Rebus seine Wahl, und Mickey gab die Bestellung telefonisch durch. Lieferung in zwanzig Minuten. Rebus hatte sich das nächste Päckchen vorgenommen. Diese Fotos waren noch älter, aus den Vierzigerjahren. Sein Vater in Uniform. Die Soldaten trugen Mützen wie die Angestellten von McDonald's. Dazu lange Kakishorts. Auf der Rückseite mancher Bilder stand »Malaya«, auf anderen »Indien«.
»Weißt
Weitere Kostenlose Bücher