Rechnung offen
war.
»Was?«
»Deine Urkunde. Dein Diplom, dein Abschlusszeugnis oder wie auch immer das bei euch heißt.«
Daran hatte sie nicht gedacht.
»Hab ich nicht mit«, sagte Ebba.
*
3 Minuten stand auf der Anzeige, Claas war erleichtert.
»Du kannst wirklich vorfahren«, sagte Ebba erneut.
Claas sah sich um, nach dem Ausgang, auf den obersten Stufen Straßenlaternenlicht, winzige Schneeflocken kreisten darin, schmolzen nicht auf dem Boden, der Wind schob sie an den Wänden zu weißen Flächen zusammen. Er wäre trotzdem lieber Rad gefahren, aber den Gefallen würde er ihr nicht tun. Ebba sah hinab auf die Gleise, 2 Minuten.
»Eine Maus«, rief sie unvermittelt. »Da«, sie zeigte auf eine der Schienen, »siehst du sie?«
Ebba strahlte ihn an. Sieh mal, Papa, ein Wauwau. Die Maus lief über die hölzernen Schwellen, verschwand in einer der Ritzen zwischen Schotter und Metall.
»In der U-Bahn sieht man oft Mäuse«, antwortete er.
»Soll ich euch nach Hause bringen«, hatte Theresa vor dem Restaurant gefragt, auf das Auto gedeutet. »Ich bin mit dem Rad da«, hatte Claas gesagt, und Ebba, »ich fahr mit der Bahn.« – »Ihr werdet ja wohl in der Lage sein, gemeinsam zurückzufahren«, Theresa hatte die Augen verdreht. Auf dem Weg zur U-Bahn hatten sie geschwiegen, Ebba hatte einmal »kalt« gesagt.
Claas fühlte den Luftzug des einfahrenden Zuges, Ebba betrachtete noch immer die Gleise.
»Die Maus ist längst weg, die wissen, wann die Bahn kommt«, sagte er.
»Sitzen«, fragte Ebba, als sie eingestiegen waren, und ging auf die beiden langen Bänke rechts und links an den Waggonwänden zu. Claas zögerte, ehe er ihr folgte, hätte ihr lieber gegenüber gesessen. Stellte das Fahrrad ab, quer vor ihre Beine, den Lenker hielt er sicherheitshalber fest. Die Scheibe gegenüber spiegelte, da saßen sie beide, hinter dem Metallgestänge des Fahrradrahmens, er braunhaarig und schmal, mit den knochigen Schläfen seines Vaters, und neben ihm Ebba und beide auf dem Weg ins Exil. Ebba nahm ihre Mütze ab, hellblond richteten sich ihre elektrisch geladenen Haare auf. Sie sah zu Boden, als sie bemerkte, dass er sie in der Scheibe betrachtete.
Schmidtke, dachte Claas, Ebba vor der offenen Tür.
»Du musst vorsichtig sein.«
»Was?« Jetzt sah sie ihn an.
»Sei vorsichtig mit den Leuten aus der Erdgeschosswohnung.«
»Was?«
»Mit den Schwarzen.«
»Farbige«, musste sie ihn natürlich korrigieren.
»Farbig sagt man auch nicht«, bleib ruhig, lass dich nicht provozieren, »Ebba, du weißt nicht, wer diese Männer sind.«
»Wegen ihrer Hautfarbe?«
»Quatsch. Du weiß nicht, was sie erlebt haben, auf den Booten und hier. Ganz zu schweigen von den Gewalterlebnissen in ihren Heimatländern. Das können ehemalige Kindersoldaten sein. Die mit Macheten Menschen zerhackt und vergewaltigt haben. Du kannst dir nicht vorstellen, was das mit der Psyche anstellt. Die sind total deformiert. PTBS . Weißt du, was das ist? Sagt dir Dissoziative Persönlichkeitsstörung was? Das macht sie nicht zu schlechten Menschen, aber man muss vorsichtig sein. Verstehst du?«
»Nein«, Ebba starrte ihn an, schüttelte den Kopf, drehte ihn übertrieben weit hin und her, hörte nicht auf.
»Für die bist du nur ein deutscher Pass.«
»Darum geht es doch gar nicht«, sagte sie und hielt endlich still.
»Du bist naiv«, versuchte Claas sie zu beruhigen, »du hast nicht viel Erfahrung damit.«
Ebba lachte auf, »Du bist der, der nichts kapiert.«
Sie versuchte aufzustehen, saß eingekeilt zwischen ihm und der Seitenabtrennung, vor ihr das Fahrrad, sie stieß gegen den Rahmen, er schloss die Finger fester um den Lenker, die Stange auf Höhe ihres Bauches. Die Bahn wurde langsamer, bremste ab, eine Frauenstimme sagte den nächsten Halt an, das Fahrrad rollte vorwärts, wenige Zentimeter nur, der Sattel traf Ebba an der Taille, am Arm, sie berührte die Stelle mit der anderen Hand.
»Lass mich raus«, sagte sie.
»Wo willst du denn hin?«
»Jetzt nimm endlich das Scheißding weg«, Ebba brüllte.
Claas sah sich um, die Bahn war leer, niemand, der ihm zuhören konnte. Ebba griff nach dem Rahmen, packte ihn mit beiden Händen, hob ihn an und stieß ihn von sich. Die Reifen federten weich, als das Hinterrad wieder aufkam, die Schutzbleche schepperten, beinahe wäre ihm der Lenker entglitten, er fasste zu.
»Spinnst du«, fragte er.
Ebba antwortete nicht, stellte sich direkt vor die Türen, wartete, bis sie aufgingen, und stieg aus, ohne sich
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