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Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Titel: Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kachelmann , Miriam Kachelmann
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ergebnisoffen zu befragen.
    So sind als Folge fast alle Kinderbilder an den Zellenwänden nur Erinnerungen an vergangene Zeiten, denn zweimal eine halbe Stunde Besuch pro Monat für einen U-Häftling mit Unschuldsvermutung reichen einfach nicht gegen das langsame Vergessen. Meistens wird die eine halbe Stunde für die Eltern oder, wenn (noch) vorhanden, für berufliche Angelegenheiten verbraucht, und auf der zweiten halben Stunde, die in einem Monat zur Verfügung steht, lastet dann der ganze Druck. Kleineren Kindern werden vorsichtshalber die tollsten Märchen zur Beruhigung erzählt: Der Vater sei im Krankenhaus, bei der Arbeit oder was die häusliche Fantasie so hergibt. Aber Kinder sind nicht doof. Spätestens die Sicherheitsschleusen und das Abgefummeltwerden durch Uniformierte machen es dem verständigen Kind ganz klar: Etwas ist hier gar nicht gut.
    Auf der anderen Seite ist da der Mann, der, was auch immer er gemacht hat, zumindest in diesem Moment zutiefst bereut, weil er sieht, dass es seinem Kind deshalb nicht gut geht. Oder, wie es mir ging und vielen anderen, die unschuldig in deutschen Gefängnissen sitzen: Die Besuchten spüren das im Namen des Volkes applizierte Unrecht am intensivsten. Voll auf die Zwölf. Den Rest des Vollzugs kann man sich mit etwas Fantasie noch als eine Mischung aus Armee, Kloster und Surrogat einer Sendung aus dem Reality- TV -Kotvorrat zusammenbasteln; kommt aber ein Kind zu Besuch, wird das ganze Elend deutlich. Es ist relativ sinnlos, mit einer halben bis maximal einer Stunde pro Monat als möglicherweise unschuldiger Untersuchungshäftling Kontakt mit seiner Familie halten zu wollen. Das Briefeschreiben ist ebenso sinnlos, weil sich die Zensurbeamten der Justiz Zeit lassen. Ein Brief eines Untersuchungshäftlings der JVA Mannheim wird üblicherweise nach zwei bis drei Wochen zugestellt und braucht ebenso lange vom Absender in den Knast. Ein fröhlicher Vater-Kind-Dialog ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil jedes zu besprechende Ereignis schon lange vorbei ist. Vom Brief seines Kindes bis zur Antwort des Vaters darauf dauert es einen bis anderthalb Monate, und das auch nur, wenn der Vater nichts geschrieben hat, was der Staatsanwaltschaft verdächtig oder unangenehm ist.
    So war für die Untersuchungsgefangenen der JVA Mannheim fast jeder Besuch der Familie eine noch Tage zuvor heftig herbeigesehnte Verheißung, die aber am Tag des Besuches selbst meist schon dann in einem Tal der Depression mündete, wenn der Stockwerksbeamte durch die Gegensprechanlage kurpfälzerte: »Müller, machsch dich ferdich, Besuch.« Angst, dass es schiefgeht, dass die Kinder weinen, Fragen stellen. Immer wissen, dass nicht das zu Gehör gebracht wer den wird, was der durchschnittliche Inhaftierte sich eigentlich wünscht: »Ich lieb dich, Papa, ich vermiss dich sehr, aber Mama und ich warten auf dich, bis du wieder da bist, dann wird alles gut.«
    Unter dem Druck einer halben Stunde pro Monat passiert nichts von alledem. Kind und Vater sitzen einander steif und unsicher gegenüber (ein Justizbeamter hockt unmittelbar daneben und überwacht den Besuch optisch und akustisch), Mutter und Vater können wegen des Kindes nicht miteinander reden, und nach Ablauf der halben Stunde sind sich alle einig, dass es furchtbar war und dass es vielleicht besser ist, diese Besuche dem Kind in Zukunft nicht mehr anzutun. So verschwinden die Kinder häufig schon in den ersten Wochen der U-Haft aus dem Leben der Väter, und es wird unmittelbar zur Legende, dass es ja doch immer darum gehe, die Gefangenen zu resozialisieren und auf eine Rückkehr in ein geordnetes Leben vorzubereiten. Bullshit. Das normale Leben der Gefangenen wird schon in der U-Haft systematisch zerstört; vom Begriff der Unschuldsvermutung ganz zu schweigen. Es gibt nach kurzer Zeit kein normales Leben mehr. Noch nicht einmal Pakete von wem auch immer sind erlaubt.
    Schon nach kurzer Zeit gibt es nichts mehr zu resozialisieren, geschweige denn nach Jahren der Haft. Die einzigen Bezugspersonen sind die im Knast – und da wundern sich die Justizpolitiker über hohe Rückfallquoten.
    Die ganzen dummen Sätze über Verbrecher und den Umgang mit ihnen sind nur deshalb möglich, weil die Justiz in Deutschland eine Welt für sich ist. Abgeschlossen, ein Staat im Staat, von dem nichts nach außen dringt. Denn Gerichtsreporter, die über den Gerichtssaal bei minimaler Motivation einen Blick in die Abgründe der deutschen Justiz werfen

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