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Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Titel: Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kachelmann , Miriam Kachelmann
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werde unsere Zeit nie vergessen. Ich werde das Datum niemals vergessen.«
    Es wird nicht viel öffentlich geweint in einem Knast, aber mutmaßlich viel hinter den geschlossenen Zellentüren. Ich war froh, dass bis zum Ende kein Selbstmitleid in mir wohnte. Am schlimmsten waren die Gedanken an die Menschen, die bei mir geblieben sind in der Not, und zu sehen, wie meine Mutter, tapfer und über achtzig, um mich litt. Aber sie hatte es ausgehalten, damals, als das Haff nicht richtig zugefroren war und die Russen kamen und die Karlsruhe in Sichtweite sank, und ich habe ihr gesagt, dass ihre Scheiße damals größer war als meine jetzt und dass ich das jetzt auch aushalten würde.
    Das einzige Mal außerhalb der Kirche, als ich Augenwasser bekam, wie man die Vorstufe zum Weinen in der Schweiz nennt, war an einem Sonntag (typisch, dass es am Sonntag passierte, wo man eben doch ein bisschen angegriffen ist). Es geschah kurz vor unserem Einschließen um sechzehn Uhr, als mein sonst durchweg tapferer Reinigerkollege sei ner seits Augenwasser bekam, während er die Fotos seiner Neffen an der Wand betrachtete: »Ich vermisse vor allem den Ältesten so sehr.« Ich konnte nur noch um Fassung ringend seufzen: »Und ich meine Kinder.«
    Wir wären einander wohl heulend in die Arme gefallen, wäre nicht G. etwas früher als sonst zum Zuschließen gekommen. So haben wir uns schnell gefasst, noch zwei weiteren Kumpels von der Ananas abgegeben, die wir zubereitet hatten (es war kurz nach dem Einkauf, Ananas muss in den ersten zwei Tagen weg, Honigmelone hält etwas länger), und ich habe in meiner Zelle noch ein bisschen weitergeschnieft. Ich vermisste meine Kinder so sehr.

When will you be out of jail?
    Ursprünglich war vorgesehen, dass ich möglicherweise beim Geburtstag des Kleineren im April kurz in Kanada vorbeischauen würde. Da meine Lebenserfahrung mich gelehrt hatte, mich auf Worst-Case- Szenarien einzustellen, hatte ich meinen Anwalt bereits bei einem seiner ersten Besuche im Knast darum gebeten, meinen Arbeitskollegen in Kanada anzurufen, damit er ein Geschenk für meinen Sohn organisieren und es ihm an seinem Geburtstag in der Schule übergeben möge. Wie für alle Mitgefangenen war es auch für mich das Unerträglichste, zuzusehen, was eine U-Haft mit den Kindern macht, vor allem, wenn die Mutter nicht solidarisch ist und die Abwesenheit des Vaters nutzt, um den Kindern den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erklären.
    In meinem Fall kam das besondere Pech hinzu, dass Viola Sch., die von der Paula zur Saula mutierende Märchenerzählerin der Bunte , in der sie »Isabella M.« genannt wurde, schon wusste, wie sie mich am stärksten treffen konnte. Sie flog nach Kanada, wo sie sich dann mit der Kindesmutter austauschte und den Kindern lange Vorträge hielt. Der Jüngere zeigte sich nicht beeindruckt. Der Ältere dagegen, den ich in seinen ersten Lebensjahren weniger oft gesehen hatte, ließ sich beeindrucken und wollte fünf Wochen nicht mehr mit mir telefonieren.
    Es war einer der dunkelsten Momente, als mein Jüngster über seinen Bruder sagte: »He doesn’t want to talk with you« (»Er will nicht mit dir sprechen«). Wie die Besuche waren auch die Telefonate mit den Kindern, die ich über meinen Anwalt vereinbart hatte, eine zweischneidige Sache. Wegen der Zeitverschiebung war es nur möglich, die Kinder an Werktagen zu erreichen, also in der meist etwas gehetzten Zeit vor der Schule. Das Wochenende fiel aus, weil dann das abhörende Personal in der JVA nicht arbeitet. So waren die Telefonate für jeweils sechzehn Uhr dreißig verabredet, und ich habe mich immer wieder darauf gefreut – bis dann der Tag kam, an dem das Gespräch stattfinden sollte und ich mich fragte, welche Räubergeschichten die Kinder wohl wieder zu hören bekommen hatten.
    Es gibt nur ein Telefon im U-Haft-Trakt, ein Stockwerk tiefer. Zuerst muss man den Diensthabenden bitten, das Gitter zur Treppe hinten aufzuschließen, dann ein paar Holzstufen hinunter, den fünfundsechzig Meter langen Weg im zweiten Stock entlang bis zum Telefon vorne rechts. Benutzername, Code, los. Die dreizehn Ziffern drücken und versuchen, den immer gleichen ersten Satz des Jüngeren auszuhalten, wie lange ich denn noch im Gefängnis bleiben müsse.
    Es war schwer, über die vielen Wochen eine geeignete Antwort zu finden. An dunklen Tagen: »I don’t know, my dear son« (»Ich weiß es nicht, mein lieber Sohn«), an besseren auch mal mit dem Versuch einer Hoffnung:

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