Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
Wahrheit nie ans Licht kommen würde. Aber ich wollte so sehr am Leben bleiben und stark sein und dadurch zeigen, dass sie auch im Gefängnis nie wichtig in meinem Leben war und es weiter nicht sein würde.
Nach solchen Nächten, in denen ich nicht gut schlafen konnte, half am Morgen, dass mich G. persönlich über die Gegensprechanlage weckte, sodass ich in Ruhe wach werden, mir die Haferflocken mit Milch machen konnte, Glotze an und Zähneputzen, Wasser ins Gesicht, und, derart einigermaßen fit gemacht, nach dem Reiniger- und Arbeiteraufschluss um sechs Uhr den Postkasten durch die Gänge tragen konnte.
Zunehmend konnte ich mich auch tagsüber nützlich machen, mit einem russischen Kollegen, der den Hauptschlussabschluss machen wollte, das Bruchrechnen üben und immer öfter für diverse Leute im Knast Anträge an Richter schreiben, die alle durchkamen. Ich hatte herausgefunden, auf welche Art von Larmoyanz die gestrengen Halbgötter in Schwarz reagierten, und befürchtete aufgrund der Erfolge meiner Ghostwriteranträge, dass sie auf effektvoll eingesetzte Tränen einer blondierten falsch beschuldigenden Spätdreißigerin hereinfallen könnten.
Zu den Hinweisen, dass ich im Knast mehr und mehr etabliert war, gehörte auch meine erste Einladung zu einem alkoholischen Getränk, das in einer anderen Zelle gebraut worden war. Irgendwas Vergorenes hinzubekommen ist ein stetes Bedürfnis aller erfahrenen Knastis, und dank der Unmengen Brot, die ausgegeben werden, kann man mit größeren Mengen Apfelsaft, Brot, einem Kanister und viel Zeit durchaus was machen. Mit Kanistern können wir Reiniger schon mal aushelfen, obwohl wir natürlich nicht wissen und selbstverständlich auch ablehnen, dass damit Schindluder und Dinge getrieben werden, die die Gefängnisvorschriften nicht gutheißen. Mir selbst fehlte die Erfah rung zur Herstellung von Apfelwein, aber an einem schönen Sommer abend habe ich ein gutes Produkt genießen dürfen, und der Wischmopp wurde an jenem Abend mit besonderer Verve geführt.
In anderen Zellen führten Alkoholika schlechterer Provenienz oder höherer Prozentigkeit häufig zu Ausbrüchen von Unzufriedenheit in Form von heftigem und anhaltendem Treten gegen die Zellentüren in großem Ausmaß, was zu Razzien in allen Zellen führte und bei Auffinden von Alkohol zu Aufenthalten im Bunker – offiziell »besonders gesicherter Haftraum« genannt (kurz bgH, bemerkenswerterweise) –, einem ratten- und kakerlakenverseuchten Loch im Keller, das stetig auf achtundzwanzig Grad gehalten wird, weil der Delinquent nur ein leichtes Hemdchen mitbekommt und ohne Decke auf einer Matratze liegen muss. In der Mitte des Raums gibt es nur ein Loch zur Verrichtung der Notdurft und die einzige Quelle natürlichen Lichts ist ein Schacht zu einem Oberlicht, das aber durch eine rund ein Meter dicke Schicht verendeter Kakerlaken doch lichtundurchlässiger ist, als man sich das wünscht. Der Anblick dieser Sonderzelle, durch die bei Gewitter nicht nur Kakerlaken, sondern auch eine große Zahl von Ratten ihr Schwimmtraining absolvieren, würde jedem Drittweltdiktator Respekt abverlangen. Es gibt kein Leben vor dem Tod im Bunker, weshalb man ihn zu vermeiden sucht.
Das Treten gegen die Tür ist ein Zeichen für Unmut, kann aber auch eine Freudenkundgebung sein. Man möge mir verzeihen, dass ich trotz meiner ursprünglich deutschen Herkunft zusammen mit allen Kumpels mit Migrationshintergrund grundsätzlich alle Mannschaften unterstützt habe, die gegen eine deutsche Klub- oder Nationalmannschaft gespielt haben. Das ist zum einen gute Schweizer Tradition, zum anderen hatten mich deutsche Beamte unschuldig eingesperrt. Hinzu kam noch die unangenehme Vorstellung, dass der gierige deutsche Staat nach einem halben Jahr Knastaufenthalt womöglich auch noch damit ankommen würde, dass mein Lebensmittelpunkt nun offensichtlich in Deutschland sei und ich deshalb in Deutschland steuerpflichtig würde.
Da Päckchen nicht erlaubt waren, war klar, dass der Geburtstag am 15. Juli 2010 ein Tag werden würde fast wie jeder andere. Es gab die zu erwartende Häme und Schadenfreude in den Medien, wie ich mutmaßte und nach der Freilassung im Internet bestätigt sehen konnte, aber wegen der Begleitung in den Medien wusste auch das gesamte Stockwerk, dass ich zweiundfünfzig wurde, und hatte ohne mein Wissen eine Geburtstagskarte im Einkauf besorgt: Fast alle haben unterschrieben, mit Vorname oder Name und Zellennummer. Morgens um sechs bei
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