Rechtsdruck
Bilgins?«
»Sieben Uhr.«
»Es war also schon dunkel draußen«, hakte Hain nach, weil er sich vergewissern
wollte, dass die Frau Lenz richtig verstanden hatte.
»Ja, nix mehr hell. Viel dunkel.«
»Der Junge hat sich also lautstark mit seinen Eltern gestritten und
dann die Wohnung verlassen«, zitierte der Hauptkommissar leise und mehr für sich
selbst ihre Worte. »Und in der gleichen Nacht wird die ganze Familie erschossen.
Wenn das mal kein Zufall ist.«
Hain zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte eine Nummer. Als
die Verbindung stand, trat er außer Hörweite der beiden.
»Gab es öfter Streit bei der Familie Bilgin?«
Frau Nasit sah den Hauptkommissar unsicher an.
»Viel Streit bei Familie Bilgin? Immer Streit?«, brach Lenz seine Frage
auf ihr Sprachniveau herunter.
Die Frau zog die Schultern hoch. »Nix wissen. Wir Tür zu, Familie Bilgin
Tür zu. Manchmal sehen, dann gutes Tag, aber nix mehr.«
»Ach so«, murmelte Lenz. »Und ich dachte immer, das gäbe es nur in
besseren deutschen Kreisen.«
»Was sagen?«
»Nichts, nichts«, winkte der Polizist ab.
Aus dem Innern der Wohnung war nun leises Babygewimmer zu vernehmen.
Die Frau drehte sich erschrocken um und griff nach der Türklinke.
»Ich nix mehr wissen«, erklärte sie und deutete hinter sich in Richtung
der Wohnung. »Und jetzt meine Kind aufwachen.«
»Ja, bitte, gehen Sie nur«, antwortete Lenz freundlich und registrierte,
dass sich in seinem Kopf ein leichter Kopfschmerz breitmachte.
»Der Junge heißt Kemal Bilgin und wohnt in Waldau«, kam es aus seinem
Rücken, wo Hain gerade dabei war, sein Telefon in die Jacke zurückzustecken.
»Aber Junge ist in dem Fall wohl der falsche Ausdruck, denn der Mann
ist 1979 geboren. Nach Aussage des Kollegen im Präsidium, der die Personenabfrage
durchgeführt hat, liegt aktuell gegen ihn nichts vor, und auch sonst ist er bisher
nicht als böser Bube in Erscheinung getreten. Wollen wir gleich zu ihm fahren?«
»Gibt es noch weitere Geschwister?«, ließ Lenz nicht locker.
»Keine Ahnung. Ich habe nur nach einem Herrn Bilgin suchen lassen,
der vom Alter her passen könnte. Und wie es der Zufall will, hat Kemal Bilgin sich
von der Adresse hier nach Waldau umgemeldet. Das sollte also passen.«
»Gut«, nickte Lenz, »dann fahren wir nach Waldau. Trotzdem interessiert
es mich, ob es weitere Geschwister gibt. Wer weiß, was noch alles passieren kann,
wenn dieser Kemal Bilgin wirklich Amok läuft und seine Familie da oben umgebracht
hat.«
Ein paar Minuten später hatten sie die uniformierten Kollegen beauftragt,
die übrigen Hausbewohner nach eventuellen Beobachtungen zu befragen, und waren auf
dem Weg in den Stadtteil Waldau, zur Meldeadresse von Kemal Bilgin.
8
Gerold Schmitt hatte die Operation am Vormittag relativ gut überstanden.
Mehr als zwei Stunden hatten die Ärzte und das Team des Klinikums Kassel damit zugebracht,
sein zertrümmertes Sprunggelenk am linken Fuß zu reparieren. Von beiden Seiten hatten
sie sich den völlig zerstörten Knochen genähert und mit Hilfe von Stahlstiften,
Schrauben und zwei Edelstahlplatten die üble Verletzung fixiert.
Schmitt war, wie schon im Ziegenhainer Krankenhaus in der Woche zuvor,
keine große Wertschätzung zuteil geworden, weil mittlerweile jeder, der mit ihm
zu tun hatte, wusste, dass er Mitglied der Freien Gruppe Schwalm-Eder war, einer
extrem rechtsorientierten Schlägerbande, die seit Jahren in dem Landkreis südlich
von Kassel und auch darüber hinaus ihr Unwesen trieb.
Der Anästhesist, der mit ihm die Einzelheiten der Narkose durchging,
war ebenso kurz angebunden gewesen wie der Operateur selbst. Jeder der beiden gab
ihm durch seinen Auftritt und seine Körpersprache zu verstehen, dass ihr Einsatz
keinesfalls über die Mindeststandards einer menschenwürdigen Versorgung hinausgehen
würde. Der Operateur selbst hatte in den Tagen zuvor, in denen die Schwellung des
Fußes sich so weit reduzieren musste, dass eine Operation möglich war, darüber nachgedacht,
den Patienten in ein anderes Krankenhaus verlegen zu lassen, weil er nicht vollständig
davon überzeugt war, dem Mann wirklich helfen zu wollen. Diese Zweifel lagen in
einem Vorfall ein paar Jahre zuvor begründet, bei dem ein junges Mädchen, das an
einem Zeltlager einer linken Jugendgruppe teilgenommen hatte, von eben jenen Schlägern
der Freien Gruppe Schwalm-Eder mit einem Klappspaten halb tot geschlagen und von
ihm während einer Notoperation wieder zusammengeflickt
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