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Rechtsdruck

Rechtsdruck

Titel: Rechtsdruck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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unterdrücken sollte, heraus,
und legte beides vor sich auf den Tisch. Wie immer, wenn er sich einen der Glücklichmacher
gönnte, wurde sein Handeln von dem Gefühl begleitet, etwas Falsches zu tun, etwas
Verbotenes. Das Röhrchen drehte sich, eine Bewegung, die er schon tausendfach ausgeführt
hatte, und schon lagen zwei der weißen Tabletten in seiner Hand. Mit den Jahren
hatte er herausgefunden, dass die Wirkung ein paar Minuten schneller einsetzte,
wenn er die Pillen nicht im ganzen mit Wasser herunterspülte, sondern sie wie Lutschpastillen
im Mund zergehen ließ. Das schmeckte zwar furchtbar, aber der Zweck heiligte die
Mittel. Als der bittere Geschmack sich verzogen hatte, steckte er das Pillendöschen
wieder in die Tasche, lehnte sich im Stuhl zurück und wartete auf die Vorboten jener
Woge der Erleichterung, die in einer knappen halben Stunde einsetzen würde.

18
     
    Das Areal um den Rasthof Kassel war weiträumig abgesperrt.
    Lenz und Hain, die sich der Unfallstelle aus westlicher Richtung, also
aus Bergshausen, näherten, wurden etwa 50 Meter vor der Brücke von einem Uniformierten
angehalten und durften erst weiterfahren, nachdem Hain sich ausgewiesen hatte. Die
letzten Meter gingen die Beamten zu Fuß, weil die Brücke durch mehrere querstehende
Streifenwagen komplett gesperrt worden war.
    »Ach du große Scheiße«, murmelte Lenz, als er das durchschlagene Geländer
und die Unfallsituation eine Etage tiefer sah. Dort hing der LKW noch immer mit
der vorderen Hälfte auf der Fahrbahn der Nordrichtung, der hintere Teil blockierte
die beiden linken Spuren der Südrichtung. Die Staus auf beiden Seiten erschienen
endlos. Hain folgte seinem Chef, der sich über die Brücke und in Richtung Motel
in Bewegung gesetzt hatte, damit er einen Blick auf die Fahrerkabine werfen konnte.
    Auch hier bot sich ein Bild des Grauens. Der von der Brücke gestürzte
Fiesta hatte sich nach dem Aufprall mit dem Unterboden in der linken Seite des Fahrerhauses
verkeilt und war erst durch die Hilfe eines großen Krans von dem Lastwagen zu trennen
gewesen. Danach waren der Fahrer des Kleinwagens und der LKW-Fahrer geborgen worden;
der Fiesta-Fahrer mehr tot als lebendig, der andere war schon beim Aufschlag gestorben.
Lenz sah ein ganzes Rudel von Männern der Spurensicherung, die in ihren weißen Tyvek-Anzügen
wie Schneemänner aussahen und vor und neben den Autowracks umherwuselten.
    »Scheint so, als ob es hier im Augenblick nichts zu tun gibt für uns«,
bemerkte Hain, während er wegen der Kälte von einem Fuß auf den anderen trippelte.
Lenz nickte.
    »Ja, der gute Kemal hat ganze Arbeit geleistet. Lass uns zum Klinikum
fahren«, setzte er mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu, »vielleicht lebt er ja noch
ein bisschen und ist in der Stimmung, ein Geständnis abzulegen.«
    Hain bedachte ihn mit einem Blick der Marke ›du hast sie doch nicht
alle‹.
    »Werd bloß nicht auf deine alten Tage noch zum Zyniker.«
    »Keine Angst«, erwiderte Lenz leise, »vorher quittiere ich lieber den
Dienst.«
     
    *
     
    »Ich glaube, um ganz ehrlich zu sein, nicht, dass der Mann diese wirklich
schweren Verletzungen überleben wird«, erklärte Prof. Dr. Wolfgang Hartenstein den
Polizisten eine halbe Stunde später auf dem Flur vor seinem Dienstzimmer. »Im Augenblick
sind mein Oberarzt und sein Team dabei, ihn so gut es geht zu versorgen, aber große
Hoffnungen sollte man sich in diesem Fall nicht machen.«
    »Welche Verletzungen hat er davongetragen?«, wollte Hain wissen und
zog seinen Notizblock aus der Jackentasche.
    Der Chefarzt sah ihn an wie einen Schuljungen aus der sechsten Klasse,
der eine Frage gestellt hatte, deren Beantwortung aber erst in der zehnten Klasse
auf dem Stundenplan steht.
    »Ich bin sicher, das würde Ihren medizinischen Sachverstand bei Weitem
überfordern, Herr Inspektor. Lassen wir es einfach so stehen, dass er es vermutlich
nicht überleben wird. Nicht überleben kann. Der Mann wirkt zwar gut konstituiert
und macht einen durchtrainierten Eindruck, aber das darf nicht über den Ernst seiner
Lage hinwegtäuschen. Wir …« Der Mediziner baute eine wohlüberlegte Kunstpause in
seinen kleinen Vortrag ein. »… würden natürlich gerne jeden Menschen retten, auch
ihn, doch zaubern können wir nun mal nicht, leider.«
    »Das heißt«, warf Lenz vorsichtig ein, »dass es zur Stunde müßig ist,
über eine eventuelle Vernehmung zu spekulieren?«
    Wenn der Chefarzt seine Missbilligung hätte steigern wollen, hätte
er

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