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Rechtsdruck

Rechtsdruck

Titel: Rechtsdruck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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letzten Schritt seines beruflichen Werdegangs jedoch hatte sein Vater
nicht mehr miterleben können, weil er vor etwas mehr als zwei Jahren an einem Gehirntumor
gestorben war.
    Wie auch immer, nun war er Staatsanwalt. Er war Staatsanwalt, obwohl
er wusste, dass er es in diesem Beruf nie weit bringen würde, weil ihm einfach die
Begabung zum großen Auftritt fehlte. Oder, treffender ausgedrückt, er konnte nur
unter größten Schwierigkeiten vor anderen Menschen frei reden, und das war für einen
Staatsanwalt ohne Frage ein echtes Ausschlusskriterium.
    Wann immer er in seiner Zeit als Student oder später als Rechtsreferendar
vor Menschen sprechen musste, und das kam zwangsläufig öfter vor, benötigte er die
Unterstützung eines Beruhigungsmittels, was zur Folge hatte, dass er seit mehreren
Jahren stark diazepamabhängig war. Die Crux bei dieser Form von Sucht besteht jedoch
darin, dass der Betroffene wegen des Gewöhnungseffekts eine ständig größer werdende
Dosis des Mittels braucht, um die so dringend benötigte Wirkung zu erzielen. Im
Fall von Ewald Limbourg bedeutete das nichts anderes, als dass er ständig müde und
unkonzentriert war, sich häufig übergeben musste, einen unsicheren Gang hatte und
vieles schnell vergaß. Außerdem war er, besonders in den letzten Monaten, äußerst
reizbar und dünnhäutig geworden.
    Sein Arzt, der schon seinen Vater behandelt hatte, versagte ihm aus
Sorge wegen des Abhängigkeitsrisikos bereits seit längerer Zeit die Verschreibung
des Medikaments, weswegen Limbourg sich im Internet einen Lieferanten aus Übersee
organisiert hatte. So ging der junge Jurist keinen Meter aus dem Haus, ohne das
Präparat in seiner Tasche zu wissen. Er schluckte vor jeder Verhandlung, an der
er teilnehmen musste, mindestens zwei der Pillen, und meist begann er den Tag schon
mit der Einnahme, einfach weil die Sucht ihm diesen Fahrplan diktierte.
    Vor etwa einem Jahr war er, vermutlich auch wegen der Dosis Diazepam,
die in seinem Blutkreislauf zirkulierte, nicht aufmerksam gewesen beim Überqueren
der vierspurigen Hauptverkehrsstraße, die den Gerichtstrakt von der Innenstadt trennt,
wurde von einem Lieferwagen angefahren und etwa 30 Meter mitgeschleift. Wegen fünf
gebrochener Rippen und eines leichten Schädel-Hirn-Traumas versetzten ihn die Ärzte
in ein fünftägiges künstliches Koma, aus dem er mit schweren Entzugserscheinungen
erwachte. Die erste der beiden Wochen, die er danach noch im Krankenhaus verbringen
musste, war die schlimmste seines Lebens, und obwohl er den größten Teil des körperlichen
Entzuges zu diesem Zeitpunkt schon hinter sich hatte, begann er direkt im Anschluss
an seine Entlassung aus dem Klinikum wieder damit, sich ruhigzustellen. Die Lehre,
die er aus dieser unangenehmen Zeit zog, war ebenso typisch wie irrational für Menschen
in seiner Situation: Er legte einfach noch größeren Wert darauf, ständig mit Diazepam
versorgt zu sein, es ständig in seiner Nähe und Griffbereitschaft zu wissen.
     
    Nun saß er am Schreibtisch seines frisch renovierten Büros, starrte
auf die Akte vor seinen Armen und wusste, dass diese Sache nur böse ausgehen konnte
für ihn. Er musste sich zwischen Erhängen und Erschießen entscheiden, eine Alternative
gab es nicht. Wenn er dem Drängen von Gebauer nachgab und die Angelegenheit unter
den Teppich kehrte, würde Marnet ihn vierteilen und danach aus dem Amt jagen. Die
Alternative allerdings, nämlich Gebauer einen Strafbefehl zu schicken und den Parteifreund
damit endgültig zu ruinieren, hatte ebenfalls keinen Charme. Trotzdem war er sich
darüber im Klaren, dass er diese Option ziehen musste, egal, was ihm in der Partei
deswegen blühen würde. Sollten sie ihn doch rausschmeißen, was juckte es ihn? Er
hatte seinen Job zu retten, das war das Wichtigste. Ohne diese Arbeit, die ihm Anerkennung
einbrachte und Gewicht verlieh, wäre er, trotz der Medikamente, die er brauchte,
um sie zu erledigen, vermutlich in der Gosse gelandet. Er zog die Laufmappe zu sich
her, klappte den Deckel auf und wollte mit dem Lesen beginnen, obwohl er vermutlich
alle Details auswendig kannte. Dann jedoch zögerte er, schob den Karton mit den
A4-Blättern wieder ein Stück nach vorne, griff in die abgewetzt-schicke Ledertasche,
die neben dem Schreibtisch stand, und zog ein altes Medikamentenröhrchen heraus.
Mit zitternden Fingern hob er den kleinen Kunststoffdeckel an, kramte das geknüllte
Papiertaschentuch, das jegliches Geräusch aus dem Innern

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