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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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ist, und ich werde sie einfach nicht los.
    Dostojewski, Brief an Michail Katkow ,
19. Juli 1866, zitiert in David Magarshack, Dostoevski

Der Untersuchungsrichter in Schuld und Sühne : Kreatives Ressentiment
    Raskolnikow, der gepeinigte Jurastudent, hat zwei Morde begangen, um seine Theorie zu testen, dass eine Person »das Gesetz […] überschreiten« ( III 5, S. 326) und ein »neue[s] Wort« ( I , S. 6) sagen kann. Der verstörte Intellektuelle, glühend vor Fieber und Schuld, gefangen in der düsteren und doch anregenden Welt der zweitkünstlichsten Stadt Europas (St. Petersburg war für Dostojewski, was Venedig für Schiller und Thomas Mann war), hat die Wirklichkeit und seine eigene theoretische Überlegenheit nicht mehr ganz im Griff und verliert den letzten Halt, als er dem Untersuchungsrichter bzw. dem »Untersuchungskommissar« begegnet, der mit den Ermittlungen zum Doppelmord betraut ist. Für den kundigen Leser übertrifft die in Schuld und Sühne zwischen Untersuchungsrichter und Verdächtigem herrschende Dynamik sogar die nach wie vor faszinierende Beziehung zwischen dem Polizeibeamten und Jean Valjean in Victor Hugos Die Elenden . Wie Dostojewskis Detailgenauigkeit uns erwarten lassen kann, verlaufen die Ermittlungen in Schuld und Sühne entlang den Linien des Strafprozesses im Russland Alexanders II . in den 1860er Jahren. Nach der typisch kurzen Rolle der Polizei bei schweren Verbrechen [12] wird der Untersuchungskommissar Porfiri Petrowitsch hinzugezogen, um förmlich die Voruntersuchung [ predvaritel’noe proizvodsto ] zu führen. Wenige Tage später, etwa auf halbem Weg im Roman, findet seine erste Begegnung mit Raskolnikow statt. Vor dieser Begegnung hatte Raskolnikow nur periphere Reibereien mit Sametow und Nikodim Fomitsch, den beiden Polizeibeamten. Während das Verhalten und die Bemerkungen des Studenten bei diesen Anlässen einen gewissen Verdacht ausgelöst haben, ist nur Porfiri in der Lage, Raskolnikows subtile Gedankenwelt zu begreifen und ihn als möglichen Mörder der alten Wucherin und ihrer Schwester Lisaweta in Betracht zu ziehen.
    Porfiri wird ungenau als zdešni pristav sledstvennikh del’ (als der örtliche Ermittler der Polizei in dem Fall) bezeichnet, zunächst von Rasumichin, Raskolnikows Freund und entfernter Cousin von Porfiri ( II 4, S. 168), später auch von Raskolnikow ( III 5, S. 333). Dagegen nennt Porfiri selbst sich entweder seldovatel’ kotoromu poručeno delo (der mit dem Fall beauftragte Untersuchungsrichter) oder einfach sledovatel’ (Untersuchungsrichter). Die Fehleinschätzung der Laien, dass Porfiri Polizeibeamter, nicht Jurist und Magistrat ist, ist beispielhaft für die in der Öffentlichkeit herrschende Verwirrung über den Strafprozess im Allgemeinen, die zu den von Porfiri später gegenüber Raskolnikow eigens erwähnten Reformen führte: »Na, jetzt ist ja nun eine Reform im Werke, und da werden wir doch wenigstens andere Amtstitulaturen bekommen« ( IV 5, S. 424 f.). Hier wie auch an anderen Stellen seines Werks lässt Dostojewski durch diese verschiedenen Benennungen des Untersuchungsrichters sein Interesse und seine Kompetenzen im Strafprozessrecht erkennen. Tatsächlich wird die Funktion in der Strafprozessordnung von 1864 sudebni sledovatel’ (wörtlich »Untersuchungsrichter«) genannt, eineklarere Bezeichnung, die Dostojewski erst für den Untersuchungsrichter im fünfzehn Jahre später erschienenen Roman Die Brüder Karamasow verwendet. [13]
    Sobald Porfiri den Fall übernimmt, hat er die Oberhand über Fomich, den Polizeichef, [14] und über den Staatsanwalt, der zwar sein Vorgesetzter ist, seine Befugnisse aber an den Untersuchungsrichter abgeben muss, bis dieser ihm die Akten übermittelt. [15] In einem derartigen Fall hätte ein wirklicher Untersuchungsrichter keine Schwierigkeiten gehabt, Porfiris weit gehende Befugnisse auszuüben. Er hätte nur zeigen müssen, dass ein Verbrechen begangen worden ist, dessen Schwere die Einschaltung seines Amts rechtfertigt – ein Umstand, der während der polizeilichen Ermittlungen bereits festgestellt wurde. Dass nicht sofort ein Verdächtiger feststand, hätte den Untersuchungsrichter nicht daran gehindert, alle zu vernehmen, die mit dem Vorfall auch nur eine vage Verbindung hatten. Daher darf Porfiri im Hinblick auf Raskolnikow Charakterzeugen untersuchen und tut dies in rechtlich zulässiger Weise auch zu Vorfällen, die mit dem Verbrechen in absolut keinem Zusammenhang stehen. [16] Er durchsucht

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