Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
potenziell Ressentiment auslösen. In einer derartigen Kultur wird Bewunderung statt Neid nur durch das ermöglicht, was Nietzsche (in gewisser Weise John Rawls vorwegnehmend) einen Akt des »gute[n] Wille[ns] unter ungefähr Gleichmächtigen« [22] bezeichnet. Weder reaktive christliche »Liebe« noch beliebige Rechtssysteme können dem modernen Protagonisten dieses Gefühl von Gelassenheit verschaffen. Und noch weniger zu finden ist dieses Gefühl in wortreichen philosophischen oderliteraturkritischen Analysen, in die keine von Anteilnahme geprägten Werte eingehen.
Wenige Leser werden das Bild des Protagonisten während der Abendessensszene vergessen: Verzweifelt sucht er die Aufmerksamkeit des beneideten Wesens zu erlangen. »Alle vergaßen mich, und ich saß zertreten und vernichtet da. […] Swerkow musterte mich schweigend wie ein winziges Insekt. Ich senkte den Blick« (S. 84 f.). Wieder einmal landen die lichten Träume des Erzählers auf dem Niveau der kalten Wirklichkeit, genau wie im Restaurant und auf dem Newski-Prospekt. Und wieder sucht sich der Kellerlochmensch selbst die absurde Rolle des rächenden Helden, indem er Ferfitschkin, den unbedeutenden Außenseiter, zum Duell herausfordert. Als sich die anderen Teilnehmer des Abendessens über diese unerwartete, verfehlte Herausforderung lustig machen, ist die Bühne frei für die exemplarische Verdrängungshandlung des Romans:
»Jetzt sollte man ihnen allen eine Flasche an den Kopf werfen«, dachte ich, griff nach der Flasche und … schenkte mir das Glas bis zum Rand voll. (S. 87)
Die Kürze dieses Satzes täuscht über seine Tragweite hinweg, denn beschrieben wird eine Nichthandlung, das durchgängige Markenzeichen der intellektuellen, legalistischen Romanhelden. Die abgestellte Flasche ist wie Hamlets in die Scheide gestecktes Schwert (»Jetzt könnt’ ich’s thun, bequem«) das Symbol für den gescheiterten Versuch eines Frustrierten, ein tief sitzendes Gefühl persönlicher Kränkung aufzulösen. Die Flasche ist auch das getreue Abbild einer Verinnerlichung. Statt die nach außen gerichtete Handlung – das Schleudern der Flasche auf die anderen – zu Ende zu bringen, nimmt der Kellerlochmensch nur ihren Inhalt zu sich. Wenn Hamlet sein Schwert in die Scheide steckt, kann dies als Symbol der Verleugnung der Männlichkeit im Freudschen Sinn verstanden werden – auch hier ein Akt der Verinnerlichung. So kläglich die modernere Version im Vergleich zu der Hamlets sein mag, ihre Folgen für die wuchernde Negativität der Romanhelden sind weit reichend. Keiner der Protagonisten »geht mit gesenkten Hörnern auf das Ziel los«.
Am Anfang der darauf folgenden Bordellszene wird Lisa, des Protagonisten letzte Chance für menschliche Nähe, ehe er für immer ins Kellerloch kriecht, das passive Objekt, auf das er all seinenfrustrierten Rachedurst projiziert. Wie bei der Herausforderung von Ferfitschkin an Stelle von Swerkow plant er, sich an Lisa an Stelle seiner wirklichen »Feinde« zu rächen. Wir wissen auch, dass der Kellerlochmensch immer diejenigen zurückgewiesen hat, die ihn zu verstehen suchten. Zum Beispiel hatte er in der Schule »einen Freund«, »eine naive und hingebungsvolle Seele«, dessen uneingeschränkte Verehrung beim Protagonisten dazu führte, »ihn sofort zu hassen« und »bis zu Tränen, zu Krämpfen« zu bringen (S. 76). Wie vorauszusehen, fängt der Kellerlochmensch an, die freundliche, ruhige Lisa in seine bombastischen Fantasien einzubeziehen. Sie soll die sklavisch unterdrückte Heroine seines »Buchs« sein. Er wird sie retten. Aber während er in Gedanken die literarische Rolle des Helden auslebt, zerstört er ihre reale Existenz so wie der Offizier aus der Taverne und Swerkow seine eigene zerschlagen haben. Dass Lisa ihre Rolle in diesem Szenario ablehnt, stellt für den Protagonisten eine Kränkung dar, die ihn auf Dauer entkräftet. Wie bei mehreren der Frauen Dostojewskis verfügt Lisa über eine bodenständige, nicht verkopfte Sympathie für andere, dank derer ihr bemerkenswerte Einblicke in komplizierte Persönlichkeiten möglich sind. Aus genau diesem Grund kann sie sich nicht in die romantischen Formen des Helden einfügen. Ihr einfache Feststellung »Aber Sie sprechen … genau wie nach dem Buch« (S. 109) bringt seine glorreichen Pläne zum Einsturz und lässt ihn ahnen, dass sie eine Kraft ist, mit der ein Kampf bevorsteht.
Lisas Einblicke, so bedrohlich sie sein mögen, sind fast erfolgreich bei der Heilung
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