Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
der Seele des Erzählers von Bitterkeit. Mit Lisa erlebt er die einzigen Momente direkter emotionaler Reaktionen, die in seinem Bericht vorkommen. Sein Eingeständnis, dass seine gespreizt vorgebrachte Tirade bedeutungslos war, sein Greifen nach ihrer Hand, seine aufrichtig gemeinte Einladung zu sich, seine warmherzige Reaktion auf ihre »Rechtfertigung« (den Liebesbrief des Studenten): All dies lässt durchblicken, dass Lisa den jungen Mann ganz unerwartet angerührt hat. Aber weil er derartige Gefühle nicht gewöhnt ist, weil er sich gegen sie mit verbalen Konstruktionen nicht zur Wehr setzen kann (in den abschließenden Absätzen von Kapitel 7 sagt er praktisch nichts), muss er das Bordell fluchtartig verlassen und nach Hause zurückkehren.
Unglücklicherweise hält das Hochgefühl, das ihn womöglich hätte retten können, nur so lange an, bis er im Erschöpfungsschlafversinkt. Und schon bald fängt die »Umkehrung der Wertetafel« wieder an. Rachsucht beherrscht ihn so sehr, dass er Gutes in Böses und Perversion in ein Ideal verkehrt. Erneut zieht er sich in seinen Formalismus zurück, vergisst Lisa fast und schreibt einen versöhnlichen Brief an einen der Teilnehmer des Abendessens, die ihn gekränkt hatten. Seine ressentierenden Tendenzen konkurrieren mit Lisas positivem, aber zu kurzen Einfluss. Eine Passage bei Scheler fängt die bei solchen Typen herrschende Spannung ein:
Darum ist der Ressentimentmensch wie magisch angezogen von Erscheinungen wie Lebensfreude, Glanz, Macht, Glück, Reichtum, Kraft; er kann nicht vorübergehen, er muß sie ansehen (ob er »will« oder nicht); aber gleichzeitig quält ihn im geheimen der ihm als »vergeblich« bewußte Wunsch, sie zu besitzen […]. Der Fortschritt dieser inneren Bewegung führt zunächst zu einer charakteristischen Verfälschung des sachlichen Weltbildes . Die Welt des Ressentimentmenschen erhält eine ganz bestimmte Struktur des Reliefs der Lebhaftigkeitswerte […]. Je mehr diese Abwendung den Sieg davonträgt über die Anziehung durch jene positiven Werte, versenkt er sich mit Auslassung der Übergangs- und Mittelwerte in die ihnen entgegengesetzten Übel, die nun einen immer größeren Raum in seiner Wert-Beachtungssphäre einnehmen. Es ist in ihm etwas, das schelten möchte, herabsetzen, verkleinern, und das packt gleichsam jede Erscheinung, an der es sich betätigen kann. So »verleumdet« er unwillkürlich Dasein und Welt zur Rechtfertigung seiner inneren Verfassung des Werterlebens. (»Das Ressentiment im Aufbau der Moralen«, S. 31)
Aber diese instinktive Verfälschung des Weltbilds hat nur eine begrenzte Wirkung. Immer wieder wird der ressentierende Mensch mit Glück (die Passanten am Newski-Prospekt), Macht (Anton Antonytsch Setotschkin), Schönheit (Swerkow), Herzensgüte (Lisa) und anderen positiven Lebensformen konfrontiert. Es gibt sie, und sie drängen sich auf, auch wenn der Protagonist sie mit den Fäusten bedroht und versucht, sie wegzuerklären. Er kann dem qualvollen Konflikt zwischen Verlangen und Ohnmacht nicht entgehen. Wegsehen ist manchmal unmöglich und langfristig wirkungslos. Wenn sich eine positive Eigenschaft seiner Aufmerksamkeit unwiderstehlich aufdrängt, erzeugt allein ihre Wahrnehmung schon Hass gegen ihre Besitzer, auch wenn diese ihn niemals gehasst oder gekränkt haben.
Es ist überaus wichtig anzuerkennen, dass ein einzelnes nicht aufgelöstes Ereignis, das von einer komplizierten, empfindlichenPerson als existentieller Vorwurf aufgefasst wird, ohne Weiteres zu einer allgemein gewendeten Rachsucht führen kann, die in allem und jedem eine potenzielle Quelle der Kränkung sieht. Daher kann eine andere Person noch vor dem Entstehen einer echten Bindung als Bedrohung wahrgenommen werden. Mehr noch: Wie die Reaktion des Kellerlochmenschen auf Lisa zeigt, verwechseln ressentierende Persönlichkeiten in perverser Weise Herzensgüte mit Feindseligkeit. Da alle mich attackieren, sagt der Ressentimentmensch, sind mit Sicherheit diejenigen für mich die größte Bedrohung, die am stärksten verkörpern, was andere »positive« Wesenszüge nennen. Insbesondere vor ihnen muss ich auf der Hut sein.
Diese Pervertierung der Wahrnehmung durch das Ressentiment wird in der in ihrer Bedeutung häufig übersehenen Szene der Konfrontation des Kellerlochmenschen mit seinem Diener Apollon exemplarisch vorgeführt. Die Rolle Apollons ist ähnlich der Smerdjakows gegenüber Iwan Karamasow; er erinnert den Kellerlochmenschen ständig
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