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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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könnte.
    Ich meine so … Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich mich am passendsten ausdrücken soll … Der Einfall ist zu komisch, aus dem Gebiet der Psychologie … Ich meine so: Als Sie Ihren Aufsatz schrieben, da haben Sie selbst sich doch notwendigerweise, hehehe, wenigstens ein ganz klein bißchen auch für einen außerordentlichen Menschen gehalten, der »etwas Neues« sagen könne, in dem Sinne, wie Sie diesen Ausdruck gebrauchen. Ist’s nicht so? ( III 5, S. 334)
    Diese Manöver sind eine Qual für Raskolnikow, und am Ende der Szene ist seine vorgetäuschte Fröhlichkeit offensichtlicher Destabilisierung gewichen. Taktisch naiv platzt er sogar heraus ( III 5, S. 336): »Sie wollen mich amtlich, mit allen Formalitäten, vernehmen?«, und verkennt dabei, dass die einzigartige Rolle des Untersuchungsrichters im Verfahren eine offene Anklage, wie Porfiri sagt, »vorläufig […] durchaus nicht erforderlich« macht. Ein Verdächtiger in Haft legt mit weitaus geringerer Wahrscheinlichkeit ein Geständnis ab als ein verwirrter Mensch, den man in Freiheit lässt, damit er sich selbst weiter verstricken kann.
    Nach und nach verfällt Raskolnikow dem Spiel, das er bereits im Begriff zu verlieren ist (wie Kafkas Joseph K. vor dem mysteriösen Gerichtshof seines Verderbens), und stellt damit die Wirksamkeit der Strategie Porfiris unter Beweis. Schon am nächsten Morgen kehrt er freiwillig zu einem zweiten Gespräch zurück, das dieses Mal im Büro des Untersuchungsrichters stattfindet. Anders als bei seinem ersten Auftritt zeigt Raskolnikow jetzt Furcht, Empörung und sogar Hass auf seinen »Freund«. Porfiri setzt seine verbale Unterminierung Raskolnikows fort, indem er einen Ton der Vertraulichkeit anschlägt und ihn sogar als batjuška (Väterchen) anspricht. Die Ungeklärtheit seiner Lage zwingt Raskolnikow dazu, jeden Ausdruck seiner wachsenden Wut [ zlost’ ] zu unterdrücken:
    »Sie sagten ja wohl gestern, dass Sie mich in aller Form zu vernehmen wünschten … über meine Bekanntschaft mit dieser ermordeten Frau?« begann Raskolnikow.
    Warum habe ich nur dieses »ja wohl« eingeschaltet? durchzuckte es ihn. Na, warum beunruhige ich mich so darüber, dass ich dieses »ja wohl« eingeschaltet habe? folgte ein zweiter Gedanke blitzschnell nach.
    Und plötzlich kam es ihm zum Bewußtsein, dass seine Zweifelsucht infolge des bloßen Zusammenseins mit Porfiri, infolge einiger weniger Worte, einiger weniger Blicke bereits in einem Augenblick zu ungeheuerlichen Dimensionen angewachsen sei … und dass es enorm gefährlich sei, wenn in solcher Art die Reizbarkeit seiner Nerven zunehme und die Aufregung steige. Schlimm! Schlimm! Die Zunge wird mir wieder durchgehen! ( IV 5, S. 419 f.) [18]
    Was Porfiri angeht, lässt er sich durch die zunehmende Gewissheit über Raskolnikows Schuld und die anhaltende Überzeugung, dass die Verhaftung eines derartigen Verdächtigen ein Geständnis verhindern würde, zu einer Verlängerung des Wettstreits bewegen. Aber ein anderer Umstand, der über diese Faktoren und sogar auch über Porfiris offensichtliches Vergnügen am Spiel selbst hinausgeht, veranlasst ihn, die Ermittlungen auszudehnen. Denn auch der Jurist fängt an, eine persönliche, reaktive Faszination mit seinem Gegner zu empfinden. Tatsächlich schaffen der Verdächtige und der Jurist in diesem Roman die packende Dualität, die den verblüffenden Ansatz in der neueren Literatur hinsichtlich der Kriminalität in hohem Maße kennzeichnet. Als Porfiris Ermittlungen Raskolnikows Schuld näherkommen, wächst im Juristen die Geistesverwandtschaft mit dem Missetäter. Die beiden finden sich gemeinsam in einer von Raskolnikow erkannten gegenseitigen Brillanz:
    »Wissen Sie was?« fragte er, indes er ihn dreist anblickte und einen wahren Genuß von seiner Dreistigkeit hatte. »Es gibt ja doch wohl bei der Justiz für alle möglichen Untersuchungsbeamten eine Regel, einen Kniff: zuerst weit ausholen, mit Kleinigkeiten anzufangen oder auch mit etwas Ernsthaftem, aber völlig Fremdartigem, um den, der verhört werden soll, sozusagen zu ermutigen oder, richtiger ausgedrückt, zu zerstreuen und seine Vorsicht einzuschläfern, und ihn dann auf einmal, wenn er es am wenigsten erwartet, durch eine verhängnisvolle, gefährliche Frage wie durch einen Knüttelschlag mitten auf den Scheitel zu betäuben; nicht wahr? Das wird ja wohl in allen Leitfäden und Anweisungen bis auf den heutigen Tag als eine besondere Weisheit eingeschärft?« ( IV

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