Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
an seinen Verfall. Jede dieser beiden kriecherischen Figuren arbeitet daran, die offensichtlich bestehende Herr-Diener-Beziehung umzukehren. Wie in dem brillanten Film Der Diener von Joseph Losey (Drehbuch Harold Pinter nach dem Roman von Robin Maugham) usurpiert ein scheinbar Abhängiger den Status des seinem vermeintlichen Herrn moralisch Überlegenen zu dessen letztlichem Niedergang. Wird die Werttafel in den zermarterten Köpfen des Kellerlochmenschen und Iwans implizit auf den Kopf gestellt, geschieht dies in den beiden genannten dämonischen dostojewskischen Beziehungen explizit. In seiner Verwirrung schafft der Kellerlochmensch nur schwer, Apollon zu entlassen. »Ich bringe ihn um!«, schreit er und bricht in Tränen aus. Aber dann geschieht etwas Merkwürdiges: »Ein schrecklicher Zorn [ strašnaya zloba ] auf sie kochte plötzlich in meinem Herzen; am liebsten hätte ich sie totgeschlagen, glaube ich« (S. 133 – Herv. i. O.).
In Sekundenschnelle hat die überhitzte Fantasie des Kellerlochmenschen Apollon durch Lisa ersetzt. Egal welche »Rache« er an seinem Diener (oder an dem Offizier oder an Swerkow) nicht nehmen konnte, jetzt will er sich an ihr rächen. Aber wieder nimmt seine Rache die Form eines gegen ein irrelevantes Objekt gerichteten Hamletschen Redeschwalls an.
Seit Ophelia haben nur wenige unschuldige Opfer ressentierender Frustrationen die vom gepeinigten Protagonisten geschleuderten verbalen »Dolche« so würdevoll ertragen. Schließlich, ganz unglaublich, versucht er, das Mädchen für die mit ihm verbrachte Zeit zu bezahlen. Die Grausamkeit dieser Geste verwundert selbst Lisa, und sie entflieht ihrem Peiniger für immer. In seiner Unfähigkeit, Liebe anzunehmen, und seiner herbeifantasierten heroischen Statur beraubt, bleibt dem Protagonisten nur noch der Weg ins Kellerloch.
Wie bereits erwähnt, decken sich Vokabular und Stil des ersten Teils mit der Verlogenheit des Erzählers. Der durchgängige Einsatz von Ironie, Paradox und Tirade zwingt den Leser zu einem unnachgiebigen hermeneutischen Herangehen an das »Tagebuch«. Nichts kann er für bare Münze nehmen. Doch der zwanghafte Aspekt der Rhetorik im ersten Teil lässt sich wohl am besten in den eigenen Worten des Protagonisten während seiner Ergüsse gegenüber Lisa verstehen:
Ich wußte, daß ich gespreizt und steif gesprochen hatte, mit einem Wort, »literarisch« [ knižke ], ich konnte ja gar nicht anders sprechen als eben »wie nach dem Buch.« (S. 115)
In gewisser Weise kann der gesamte erste Teil so analysiert werden, als sei er eine Reprise des pompösen Wortschwalls des Lisa-Vorfalls, »wie nach dem Buch« und nicht aus den spontanen Mechanismen eines existenzialistischen Bewusstseins stammend. Organische Verlogenheit wird im Kellerloch zum Dauerbrenner. Ihre Opfer sind wir, nicht mehr Lisa.
Mit Dostojewskis brillanter Beschreibung ressentierender Negativität gelingt es ihm hier, eine scheinbar »freie« Philosophie mit den verfälschendsten und obsessivsten Tendenzen eines bestimmten Typs formalistischer Existenz in Beziehung zu setzen. Wie noch gezeigt werden wird, bezieht der Schriftsteller sein eigenes Unterfangen mit ein, wenn er einen solchen Zusammenhang herstellt: Der Drang, Wirklichkeit in der künstlichen Enge eines »Buchs« anzuordnen, ist natürlich der des Schriftstellers. Noch deutlicher: Die beiden Teile der Geschichte zeigen die Notwendigkeit auf, die Prämissen zu untersuchen, auf denen hochtrabende Äußerungen basieren. Diese Einsicht wird unser Verständnis von Romanfiguren wie Iwan Karamasow, Kapitän Vere und Jean-Baptiste Clamence erhöhen. Doch mit dem nächsten Werk Dostojewskis, Schuld und Sühne , wird die Tendenz zum Verbalisieren über die Grenzen derKellerlochmentalität auf die Gerichtshöfe ausgedehnt. Auf seinem vorsichtigen Weg hin zu Die Brüder Karamasow gelang es Dostojewski, die gesellschaftlichen, nicht nur die rein persönlichen Konsequenzen narrativen Ressentiments zu begreifen.
Teil 2 – Das Scheitern der christlichen narrativen Vision: Dostojewskis juristische Romane
Die Juden wären zutiefst verblüfft über die Vorstellung gewesen, dass Ästhetik und Moral in unterschiedliche Reiche gehören. Man sprach nicht von schönen Dingen, sondern von schönen Taten.
Irving Howe, World of Our Fathers
In den letzten zwanzig Jahren … hatte ich das qualvolle Gefühl – und ich sehe es klarer als jeder andere, dass mein hauptsächlicher literarischer Fehler – Weitschweifigkeit
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