Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
5, S. 421)
Porfiris eigene Erklärung des schließlichen Erfolgs des Untersuchungsrichters ist »zweischneidig«. »[Die] Natur kommt dem armen Untersuchungskommissar zu Hilfe« ( IV 5, S. 431); aber nur der Scharfsinn des Untersuchungsrichters erkennt diese Natur des Verbrechers und bildet sie im juristischen Kontext verbal nach. Wie der einfühlsame Romanautor spürt Porfiri die verborgensten Regungen des Verdächtigen auf und setzt dann seine verbalen Fähigkeiten ein, um ein Porträt zu zeichnen, das seine eigenen subjektiven Ziele fördert. Wenn die Justiz das Ziel hat, kodifizierte juristische Weisheit fair auf den Einzelfall anzuwenden, verfolgt derUntersuchungsrichter den Zweck, aus jedem Fall ein allgemeingültiges Porträt zu machen.
Während ihr faszinierendes Verhältnis auf Porfiris unausweichlichen Sieg zusteuert, wächst Raskolnikows verinnerlichtes Ressentiment in einem Maß, das bei Dostojewski nur vom Kellerlochmenschen und von Iwan Karamasow in der Konfrontation mit dem hinterhältigen Smerdjakow während der vergleichbaren drei Unterredungen dieses letzten Romans erreicht wird. Im letzten ihrer Dialoge ( VI 2) legt Porfiri eine fast aufrichtige Zuneigung zu dem geschwächten Verdächtigen an den Tag, klopft ihm gelegentlich auf das Knie oder auf die Schulter und wechselt von seiner selbst erklärten, kichernden Rolle als »geborener Komiker« zu einer anscheinenden Wehmut über das kurz bevorstehende Ende des Spiels. »Es war, als würfe er mit einem Mal alles Versteckspiel und alle Zweideutigkeit beiseite« ( IV 5, S. 440). Aber seine Aufrichtigkeit, selbst wenn sie nicht völlig geheuchelt ist, dient auch seinen strategischen Zielen.
Nachdem er seine eigene Technik als Jurist in längeren Ausführungen über die unermesslichen Befugnisse des Untersuchungsrichters »gestanden« hat, kann Porfiri ganz natürlich dazu übergehen, Raskolnikows Aktionen als Mörder zu beschreiben. Porfiri gibt geheime Verletzungen von Raskolnikows Intimsphäre zu. Verdeckte Durchsuchungen und Beschlagnahmen, Gespräche mit den engsten Freunden, Ausstreuen von Gerüchten zur Verwirrung des Verdächtigen, Inszenierung falscher Geständnisse und subtile verbale Manipulation von Menschen und Ereignissen. Aus theoretischer Sicht ist Porfiris Entscheidung faszinierend, seine eigene zwar legale, doch amoralische oder exzessive Vorgehensweise bei der Ermittlung von Raskolnikows Schuld offenzulegen. Porfiri, der dem erwünschten Geständnis immer näherkommt, beschließt, dass er dem gequälten intellektuellen Verdächtigen eine Beichte schuldet. Mit der Anerkennung seiner Übergriffe erreicht Porfiri mindestens zwei Dinge. Zum einen rühmt er sich der Überschreitung, von der Raskolnikow dachte, sie könne nur durch die Begehung eines Verbrechens verwirklicht werden. Auch Juristen, scheint Porfiri sagen zu wollen, handeln auf einer moralischen Ebene, die sich von der des gewöhnlichen Bürgers erheblich unterscheidet. Zum anderen stellt Porfiri den Zusammenhang zwischen sich und seinem Schöpfer, dem Autor, her. Denn das Offenlegen der Techniken seinesBerufs ist die Reproduktion des bewussten Einsatzes narrativer Techniken im Roman. Dies könnte der Grund dafür sein, dass die Verhöre ihren Höhepunkt in Porfiris ausführlichem, in der dritten Person gehaltenen Bericht über Raskolnikows Mordtat finden (ab S. 574). Die vom Untersuchungsrichter vorgetragene Zusammenfassung des Verbrechens schönt den ursprünglichen Bericht im ersten Teil, bleibt aber im Wesentlichen wahrheitsgetreu.
Wie die perfektioniertere Behandlung des juristischen Themas in Die Brüder Karamasow zeigt, wirft die in Schuld und Sühne hergestellte Assoziation des Juristen mit dem Verbrecher einerseits und mit dem Autor andererseits Fragen auf, die im früheren Roman nicht umfassend beantwortet werden. Da Porfiris Darstellung des Verbrechens und des Verbrechers während dieses letzten Verhörs im Wesentlichen akkurat ist, sieht es so aus, als sei Dostojewski noch nicht ganz darauf vorbereitet, sich den selbstkritischen Implikationen juristischer Schlussfolgerungen auszusetzen. Diese Aufgabe blieb seinem letzten Meisterwerk vorbehalten. Doch legt er die Saat für diese Erkenntnis während der äußerst kurzen Prozessszene in Schuld und Sühne .
Die passenderweise im Epilog, der einige ästhetisch schwache Wendungen enthält, untergebrachte Beschreibung von Raskolnikows Prozess betont die kreative Falschheit des Untersuchungsrichters. Mit Porfiris
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